Klingelingeling, der Oscarmann.... drückt einem (und der Jury) wie immer kurz vor Knapp noch eine Independent - Perle in den Nacken. Das hat beständige Tradition, um auch bloß vom selbstpreisenden PR-Brimborium irgendwelcher A-Prominenten abzulenken, die ihre Werke schon vorher in den Himmel favorisieren (und manchmal sogar selbst mitspielen). Und jeder mag den Underdog, bei der Academy umso mehr, erzeugt er doch einen Effekt der Mehrdimensionalität in der Veranstaltung. Den man dieses Jahr bei #OscarsSoWhite ohnehin gebrauchen kann. Die "Perle", Querverweis hier beispielsweise auf Zeitlin's "Beasts of the Southern Wild" (2011) oder Debra Granik's "Winter's Bone" (2010), ist nicht selten nur schmuckes Beiwerk, bringt dafür aber umso häufiger ernstzunehmende Schauspielkandidaten in Abräumer - Stellung. Wie im Falle von Lenny Abrahamson's "Raum", die Amerikanerin Brie Larson.
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Auf wenige Quadratmeter Spielraum gesellt sich der Zuschauer zu seinen beiden Protagonisten Jack und seiner Mutter (Larson), wobei hier Jacob Tremblay's Jack der Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist. Die Kamera begleitet ihn, schaut nicht selten durch seine Augen hinauf in die Welt der Erwachsenen. Es ist ein Zweifeln, Grübeln und Fantasieren in der ersten Filmhälfte, die Jack's Welt umkreist und dabei äußerst wirkungsvoll das Mystische des Films erhält. Was ist das für ein Raum, stellt sich dem in ihm geborenen Jack nicht, es ist vielmehr das Absolut seines gesamten Seins.
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Schon beim letztjährig laufenden "Locke" von Stephen Knight, stellte sich mir die Frage, inwieweit einen Klaustrophobie - Experimente des Neuzeitkinos bei Laune halten können. Geht so bei Ryan Reynolds (Buried), geht aber auch super, bewies damals ein großartiger Tom Hardy und beweist jetzt ein alles überragender Jacob Tremblay im Alter von 9 Jahren. Natürlich, sagen die einen, ist das bei Kinderschauspielern jetzt leicht zu sagen. Häufig sind sie die unbedarfte und augenzwinkernde Projektionsfläche der Erwachsenen, ihr naiv- lebensweiser Kompass in einer völlig verwirrenden Welt. Und nicht selten einfach nur plastisch - surreal. Oder erklärt ihnen ihr Kind zu Hause auch von Zeit zu Zeit mal die Welt?
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Hier liegt der Fall ein wenig anders, Tremblay's Jack ist Handlungsträger und Autofokus des Films, der den Rest der Welt als Projektionsfläche gebraucht. Was sich seinem Tun in den Weg stellt, wird analysiert, was nicht, besitzt auch für Film und Geschehen keine Relevanz. Durch eine spielerische Sicht auf seine Erziehung in der ersten Stunde gelingt Tremblay eine unerwartete Ebenbürtigkeit mit dem Zuschauer gleich der kleinen Protagonistin Hushpuppy aus "Beasts of the Southern Wild". Dieses Vermischen des typisch Naiv - Kindlichen mit dem Entdecken des anschließend Neuen machen "Raum" zum "Boyhood" anno 2016 auf einer psychologisierten Ebene. Unabhängig von der Frage, ob der Award-Schwanzvergleich einen 9-jährigen schon interessieren (sollte), lässt sich schon rätseln, warum Tremblay nicht nominiert wurde. Offenbar soll verhindert werden, dass DiCaprio erneut die Tränen in die Augen schießen.
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Projektionsfläche Nummer 1 und Spiegel innerer Zerrissenheiten ist Brie Larson als Jack's Mutter, die jetzt wohl Jennifer Lawrence als neue Hoffnung Hollywoods ablösen soll. Die da drüben lieben absolute Ankündigungen.
Natürlich muss ihr Schauspiel nuancierter sein als Tremblays, schließlich ist es ihr Gesicht, in dem der Zuschauer versucht, Wandlung und Fortschreiten der Storyline zu erkennen , auch wenn der große Knall (vermeintlich) bereits nach einer Stunde kommt. Larson's Part tariert die komplette Dramenplatte von depressiv bis hoffnungsvoll aus und wird von "Kennern" (oder wie Böhmermann sagt: zynische Hater) gerne als "dankbar" ausgelegt. Gilt allerdings schon seltener, wenn man weniger bekannt und unter 30 ist. Gibt's noch was zu erwähnen? Larson's Spiel ist einfach umwerfend und sie wird das Ding am 28.2 wuppen. Punkt.
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Zum vermeintlich: Das von der Autorin selbst verfasste Drehbuch trifft den Ton dieser abgewandelten Erziehungsgeschichte unter dem Deckmantel eines brutalen Verbrechens sehr genau. Der Break und das Rauben der anschließenden Illusion (nicht nur beim Zuschauer) fordert geradezu filmische Konsequenzen, ergo mehr Laufzeit. Das macht das Projekt "Raum" letztlich so wertvoll. Was folgt, ist ein schwierig zu knüpfender Neuanfang, der erst einmal begangen werden muss. Mutter und Kind bilden weiterhin ihren räumlich eng begrenzten Kosmos, in einem Film, der letztlich zu dem fast schon paradoxen Schluss kommt, dass die Mutter ihr Kind noch mehr braucht als umgekehrt. Eine Mutter also, die gerettet werden kann, von einem Kind, das ohne Strukturen, Anschluss findet, ohne zu vergessen, wo es herkommt. "Bye, Room!" Er fungiert als Parabel für Opfer dieser grausamen Verbrechen, vor allem aber für dessen Heilung.
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"Raum" ist interessant, manchmal sogar kniffelig, er ist einfühlsam und unter einigem Unbehagen, das man von Mal zu Mal kriegt, sogar hoffnungsvoll lebensecht. Und er hat einen psychologischen Aspekt, der dank der Mutter - Sohn - Dynamik greifbarer für den Zuschauer wirkt. Und weniger bedeutungsschwanger und belehrend ist als würde man an irgendeiner Stelle des Film einen Psychiater in den "Raum" werfen. Wortspiel. Dieses Ausgewogene und die in seinen besten Stellen ausgestrahlte Ruhe und Bedachtheit zum Thema sind auch Leistungen von Regisseur Abrahamson und Kameramann Danny Cohen (King's Speech, Les Miserables), der durch dezentes Einblenden, spätes Scharfstellen und genauen Close - Ups seines Protagonisten ganz nah an der Erlebniswelt des Jungen dranbleibt.
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Fazit: "Raum" ist konzentrierter und vitaler als "Boyhood", ausgewogen erzählt und psychologisch alles andere als oberflächlich. Tremblay besitzt den Geist von Qwenzhae Wallis' Hushpuppy und das ist von mir mehr Kompliment als überhaupt möglich. Dieser Darsteller und dieser Stab perfektionieren ein aufwühlendes Thema auf einer unerwartet spielerisch-experimentellen Ebene. Grund genug für mich und auch passend zur Awardzeit, nach "Birdman" letztes Jahr mal wieder eine Höchstwertung herauszukitzeln.