Toni Erdmann - oder öfter mal nackt sein
Zu Beginn des Films fragt man sich, wie kann die nur so sein. Diese Tochter, die für ein Consulting-Unternehmen daran arbeitet, weite Teile der Beschäftigten einer rumänischen Erdölfirma „outzusourcen“. Erdölkonzern und Rationalisierung, Inbegriffe kapitalistisch berechnender Kälte, die über Leichen geht. Augen, die entweder streng oder seltsam beschämt nach unten schauen, kaum wirklich Blickkontakt aufnehmen. Gespräche, die ausschließlich nach der Nützlichkeit von Informationen gefiltert werden, die einem irgendwo demnächst einen Vorteil verschaffen könnten. Die Tochter, die kurz zu Hause vorbeikommt und nur am Telefon hängt. Schnell beginnt man zu ahnen, dass der Vater, ein verschroben, aber liebenswürdig daherkommender Liebhaber unterschiedlichster Verkleidungen und schräger Rollen nicht so unrecht haben kann, wenn er zu seiner geschiedenen Frau sagt: „Da haben wir was falsch gemacht“. Der Besuch ist knapp, die Verabschiedung auch, der Vater wird aufs Skypen vertröstet – vielleicht mag aus der Distanz heraus irgendeine Art von Beziehungsaufnahme besser gelingen.
Als sein Hund stirbt, macht er sich auf den Weg nach Bukarest, um Kontakt zu seiner Tochter zu suchen. Eine Beziehungsaufnahme gelingt trotz des Bemühens um gemeinsam verbrachte Zeit nicht. Eine krampfige Umarmung zum Abschied, die als Höflichkeitsfloskel ausgeführt jede Berührung zu vermeiden versucht. Auf dem Balkon winkt sie ihrem Vater hinterher und Tränen schießen ihr in die Augen. Ist sie also doch ein Mensch.
Doch er scheint nicht aufgeben zu wollen, in Gestalt von Toni Erdmann - ‚Coach and Consultant‘ mit schreiend unecht wirkender Langhaarperücke und vorstehendem Gebiss nähert er sich seiner Tochter und ihrer Businesswelt, deren Maskenhaftigkeit und Leere hinter den glanzvollen Hüllen dieser merkwürdige Kauz durch seine Maskerade so zauberhaft karikiert. Zunächst wütend über sein Eindringen, lässt sie sich doch mehr und mehr auf sein Spiel ein, lässt sich hier und da gar ein echtes Schmunzeln abringen und spannt ihn schließlich sogar als Statisten für ihre Zwecke ein. Beim Besuch einer Baustelle verweist er als vermeintlicher russischer Bauherr beim fröhlichen Handschlag auf die ölverschmierten Hände eines rumänischen Angestellten: „not good“, was sofort einen nachdrücklichen Verweis auf die Sicherheitsstandards und die erbarmungslose Entlassung des Manns zur Folge hat. Da hilft auch das flehentliche „No, please don‘t fire him, it was just a joke!“ nicht weiter. Die Szene macht deutlich, wie Herr Erdmann um leichtfüßige Begegnungen bemüht, das Leben als einzigen großen Scherz betrachtet und doch die tragischen Auswirkungen seiner Unbedarftheit nicht kontrollieren kann, weder beim rumänischen Bauarbeiter noch bei der eigenen Tochter. Dieser kommt selbst dann ihre Contenance nicht gänzlich abhanden, als sie in der ihr vom Vater kurzerhand übergeholfenen Rolle als Sekretärin des angeblichen deutschen Botschafters, der tatsächlich zu einer Party erscheint, deren Einladung nur der Etikette wegen ausgesprochen worden war, einen Whitney Houston Song schmettert, während ihr Vater die ewig gleichen drei kitschigen Akkorde am Keyboard dazu klimpert. Er muss es wohl gewesen sein, der ihr das Gefühl vermittelte, auf ihn, auf niemanden sei eigentlich wirklich Verlass und daher die Selbstliebe - „the greatest love of all“. Doch der Grat zur Selbstüberhöhung in einer narzisstisch vulnerablen Gesellschaft ist schmal.
Danach hält sie es nicht mehr aus in der viel zu engen Hülle, die sie nicht atmen lässt und entschließt sich kurzerhand, ihre Gäste beim Geburtstagsbrunch nackt zu empfangen. Ob sie es ist, die danach endlich kündigt oder entlassen wird, weil man sich danach nicht mehr unter die Augen treten kann wie zuvor, ist eigentlich kaum von Belang. Nur ihr Vater erscheint verhüllter denn je, in Gestalt eines mächtigen, Gorilla-ähnlichen Kostüms, das sogar sein Gesicht vollständig verbirgt. Erst hier, unter größtmöglicher Fellpanzerung wird eine ehrliche Umarmung möglich.
Am Schluss stirbt nicht er an Herzversagen, sondern seine Mutter. Deren Kühle und den forcierten Gegenentwurf einer Generation in Abgrenzung zur vorherigen belässt der Film in Andeutungen. In einem Moment im Garten, in dem endlich die ersehnte unverhüllte Begegnung zwischen Vater und Tochter zustande zu kommen scheint, schnappt sie sich die falschen Zähne aus seiner Hemdtasche und verwandelt sich in eine ihm mindestens ebenbürtige Witzfigur. Während sie aussteigt statt ihm zu antworten, sind sich die beiden in diesem Moment auf ihre ganz eigene Art irgendwie doch nahe.
Erfreulich, dass so viele Tatort-Verdorbene und ein Publikum, das die leider viel zu oft viel zu direkte bis platte Emotionalität deutscher Filme gewohnt ist, diesen international hoch gelobten Film angemessen zu würdigen wussten. Ein wenig erschreckend ist es aber zugleich, dass sich viele in dem Abkämpfen der Figuren an ihrer Beziehungslosigkeit, dem ambitionierten Verdecken des inneren Mangels durch berufliches und soziales Vorankommen und den hoffnungsvollen Momenten dazwischen zumindest ein bisschen wiedergefunden haben müssen. Wie wäre es also mit einem ‚öfter mal nackt sein‘ als Vornahme fürs neue Jahr?