Bereits seit 1967 bleibt der amerikanische Regisseur Frederick Wiseman seinem Turnus treu, so gut wie jedes Jahr einen neuen Dokumentarfilm in dem von ihm mitetablierten Direct-Cinema-Stil, der ihm jedwedes Eingreifen in das Geschehen vor der Kamera untersagt, zu drehen. Nachdem er sich unter anderem schon der Eliteuniversität Berkeley („At Berkley“) und der Pariser Ballettkompanie („La Danse – Das Ballett der Pariser Oper“) widmete, wendet sich Wiseman für seine 39. Dokumentation nun der altehrwürdigen National Gallery zu. Und auch wenn er sich in seiner drei Stunden langen Dokumentation gewohnt viel Zeit lässt, gelingt Wiseman mit „National Gallery“ ein spannender Einblick in den Betrieb und die beständige Neuentdeckung der Schätze des berühmten Londoner Kunstmuseums.
Die neueste Dokumentation von Wiseman ist eine Verbeugung vor dem Kulturpalast National Gallery und seinen vielen engagierten Mitarbeiter, die begeistert dafür sorgen, dass sich das Museum immer wieder auf spannende Weise neu präsentiert und dass die alten Meisterwerke für das Publikum lebendig werden. So liegt der Hauptfokus der Dokumentation, in welcher sowohl auf Voice-Over als auch auf Interviews gänzlich verzichtet und stattdessen die Position eines stillen Beobachters eingenommen wird, auf der Beziehung zwischen den Gemälden und ihrer jeweiligen Betrachter. Im Schnitt-Gegenschnitt-Verfahren gibt es zu Beginn Komplettansichten von Bildern sowie durch die Gänge wandelnde und vor ihnen stehenbleibende Besucher. Eine Museumsführerin gibt ihrer Besichtigungsgruppe dabei an einer Stelle zu bedenken, dass jeder Eindruck von einem Kunstwerk einem beständigen Wandel unterliege. So kann die Stimmung des Betrachters, sein Bildungshintergrund oder Alter bei einer nochmaligen Sichtung eine ganz neue, andere Bildwahrnehmung nach sich ziehen.
Doch sich auf Kunst wirklich einlassen, ein Meisterwerk auf sich wirken lassen und sich damit auseinandersetzen zu können, bedarf manchmal auch etwas Hilfe. Und hier kommen die vielen verschiedenen Touren durch das Museum ins Spiel, in denen die hoch motivierten Museumsführer abgestimmt auf unterschiedliche Zuschauergruppen ihr Wissen weitervermitteln und Interesse an Kunst und ihren Hintergründen schaffen. Hier werden die Gruppentouren für unterschiedliche Themenschwerpunkte genauso gezeigt, wie Kinderführungen, Diskussionsrunden oder blindengerechte Bildbesprechungskurse. Dabei verweisen die anschaulich erklärenden Führer auf interessante Aspekte der aus unterschiedlichen Jahrhunderten stammenden Kunstwerke, während die Kamera ihren Worten folgend die betreffenden Einzelheiten fokussiert.
Um das Museum für die Öffentlichkeit, trotz all der anderen Highlights der Kulturmetropole London weiterhin zu einem Anziehungspunkt zu machen und die Betrachter in die heiligen Hallen zurückkehren zu lassen, setzt die National Gallery auf Marketingaktionen und Eventausstellungen. So zeigt der Regisseur auch die Diskussionen bei Sitzungen der Verwaltung, die Vorbereitungen zu besonderen Veranstaltungen oder die Besprechungen zu Bilanz- und Finanzierungsfragen. Klavierkonzerte, Tanzaufführungen und große publikumsträchtige Sonderausstellungen beleben heute die National Gallery und sind die Früchte des Einsatzes der engagierten Museumsverwaltung. Zudem schaut Wiseman den Restaurateuren über die Schulter und eröffnet so, dass bei Reinigungs- und Restaurationsprozessen manchmal auch völlig neue Kenntnisse über die Bilder und Künstler zutage treten können. So widmet sich der gefeierte Regisseur in den drei Stunden seiner Dokumentation immer für ein paar Minuten einem speziellen Aspekt des Museumsbetriebes bevor er zu einem anderen übergeht. So schafft er zwischen Zuschauermassen, Museumsführern, Restauratoren, Reinigungskräften und Verwaltungsangestellten pendelnd ein umfassendes Bild über die unterschiedlichen Zahnrädchen, welche ineinandergreifend die National Gallery zu einer besonderen Kunstinstitution machen.
Fazit: Frederick Wiseman eröffnet in seiner still beobachtenden Dokumentation einen umfassenden Einblick in einen modernen Museumsbetrieb und macht zudem Lust darauf, die Kunstschätze der National Gallery aufs Neue zu entdecken.