Richard Linklater hat mit „Before Sunrise“ (1995), „Before Sunset“ (2004) und „Before Midnight“ (2013) den Werdegang einer Familie erzählt und für alle Teile dieselben Hauptdarsteller engagiert (Ethan Hawke, Julie Delpy). Mit „Boyhood“ ist nun ein ähnliches Werk entstanden, aber doch ganz anders: Die Dreharbeiten wurden in den Jahren 2002 bis 2013 mit denselben Schauspielern an 39 gleichmäßig verteilten Tagen absolviert und decken einen Lebenszeitraum von ca. 12 Jahren ab. Im Mittelpunkt steht Mason jr. (Ellar Coltrane), der zu Beginn des Films 6 Jahre alt ist und nach 162 Filmminuten 18 Jahre alt sein wird. Während sich der Zuschauer in den Before-Abschnitten mit geänderten Lebenssituationen auseinandersetzen muss, erfährt er bei „Boyhood“ die Änderung selbst.
Texas: Der kreative Mason jr. geht durch die Schule, erlebt die Besuche und die erneute Heirat des leiblichen Vaters Mason sr. (Ethan Hawke), auch den mehrfachen Männerwechsel der Mutter Violetta (Patricia Arquette) mit Patchwork-Family-Versuchen. Zum Bund gehört auch seine etwas ältere und nervige Schwester Samantha (Lorelei Linklater).
An der Handlung ist neben der Männerabwechslung der Mutter mit verbundenen Umzügen nicht viel dran, aber in 12 Jahren passiert einiges, sicherlich mehr als in 162 Minuten ausführlich dargelegt werden kann. Bewundernswert ist zunächst, dass das Ensemble die langjährige Drehzeit zusammengebracht werden konnte. Erwachsene Menschen 12 Jahre jünger oder älter zu schminken, ist sicherlich nicht das Problem, zur Not hilft CGI. Aber junge Menschen ändern sich stark. Und ein solcher steht im Mittelpunkt der Geschichte. Vor der Leinwand sitzend, darf man Mason jr. dank der unkonventionellen Produktionsweise beim Heranwachsen begleiten, ohne dass der Schauspieler ausgetauscht werden muss. Nebendran Schwester Samantha, gespielt von der Tochter des Regisseurs. Das ist jedoch lediglich Interessant und noch keine Garantie für einen guten Film. So stand der texanische Regisseur vor der Aufgabe, die Abschnitte für einen interessanten Kinobesuch zusammenzusetzen, ohne Langeweile oder den Eindruck einer lückenhaften Erzählung zu erzeugen. Und das ist ihm beinahe meisterlich gelungen. Die Zeitsprünge stören nie den Rhythmus, die Geschehnisse sind sooo smooth aneinandergefügt, dass sie sich stets im sanften Fluss befinden, ebenso wie die gezeigte Hula-Hoop-Tänzerin am Straßenrand in ihrer Bewegung zur Musik. Für die eine oder andere Situation bleibt die Frage nach der Entwicklung im Raum stehen, z.B. warum die Mutter auf falsche Männer stets einen Magnetismus ausübt. Die schwarzen Schafe werden recht schnell aus dem Szenenbild entsorgt, ohne den langen Rattenschwanz zu offerieren, der sich dem Leben präsentiert, wenn Schiefgelaufenes unter Anstrengungen wieder auf die Bahn gerückt werden muss. Unterm Strich soll das Positive deutlich siegen. Doch das verdirbt weder die Faszination noch das Dabeibleiben. Die Leinwandfamilie lädt nicht nur zum Lachen und Bedauern ein. Erinnerungen an eigene Lebensabschnitte oder die der Kinder, Freunde, Geschwister mischen sich mit den einprägsamen Bildern des Linklater-Films.
Zu den sachlichen, aber farbenfrohen Bildern gibt es einen satten, sehr passend ausgesuchten Soundtrack, vereinzelt mit purem Rock. Mason sr. ist Musiker und liebt das Leben mehr als ein Verantwortungsgefühl zu entwickeln. Für Ausflüge an Papa-Wochenenden ist er gerne zu haben und hebt kurzzeitig die Stimmung. Ethan Hawke bringt - wie auch in der Before-Trilogie - einen gewaltigen Beitrag, um seiner Figur Natürlichkeit und Humor zu geben. Das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf den erst kleinen und später großen Star Ellar Coltrane. Linklater habe sich - laut Interview mit der Süddeutschen Zeitung – ausführlich mit dem heranwachsenden Hauptdarsteller beschäftigt, um seine Entwicklung in die Figur ausstrahlen zu lassen. Die Dreharbeiten seien, über die lange Zeit verteilt, nicht sonderlich problematisch gewesen.
Richard Linklater zeigt einen mitreißenden Film über eine Familie, ganz weit weg vom Hollywood-Schnulz. Er endet zu Beginn von Mason‘s College-Zeit und hätte bis zum Ende weiterlaufen dürfen.