Eine Idee, so absurd, dass sie fast schon wieder genial ist, aber eben nur fast. Der faustische Filmemacher James Toback, der immer schon einen Hang zum Exzessiven und (Selbst-)Zerstörerischen hatte, und der Fernsehstar Alec Baldwin („30 Rock“) wollen gemeinsam ein Remake von Bernardo Bertoluccis berühmtem Erotik-Drama „Der letzte Tango in Paris“ realisieren: „Der letzte Tango in Tikrit“. Ein knallharter CIA-Agent, der nach mehreren Jahren im Irak ausgebrannt ist, und eine Journalistin, die eher dem linken Spektrum angehört, stürzen sich in eine obsessive Affäre. Um dieses irrwitzige Projekt über Sex und Politik, Krieg und Leidenschaft, das eigentlich nur scheitern kann, zu finanzieren, fliegen Toback und Baldwin 2012 zum Festival nach Cannes. Dort, wo alle wichtigen Einkäufer und Produzenten, Studiobosse und Finanziers, zusammenkommen, müssen die erhofften Mittel, etwa 20 bis 25 Millionen US Dollar, doch aufzutreiben sein. Und eben von dieser Suche nach dem Geld erzählt James Toback in seiner Dokumentation „Verführt und verlassen“. Allerdings überschreitet er dabei so ziemlich alle Grenzen des Genres und eine Frage rückt von Anfang an ins Zentrum des Projekts: Was ist Spiel, was Wirklichkeit?
Cannes, der alljährliche Jahrmarkt der Eitelkeiten und der großen Geschäfte. Kunst, wie sie dem Exzentriker James Toback vorschwebt, findet sich hier zwar in den verschiedenen Sektionen des Festivals. Aber in den Hotel-Suiten und auf den Yachten, in den Villen und den Restaurants, in denen er und sein Star potentielle Geldgeber umwerben, sind ganz andere Dinge gefragt. Immer wieder müssen die beiden sich anhören, dass fünf Millionen Dollar kein Problem wären, die kommen praktisch immer wieder rein. Doch damit will sich Toback nicht begnügen. Schließlich schwebt ihm ein Dreh in einem Land vor, das auf der Leinwand nicht vom Irak zu unterscheiden ist. So zieht es ihn von einem Produzenten zum nächsten Rechtehändler. Zwischendurch umgarnt er den einen oder anderen Milliardär und Playboy in der Hoffnung, ihn mit ewigem Nachruhm locken zu können.
Im Prinzip erzählt „Verführt und verlassen“ nichts, was sich nicht schon jeder, der sich ein wenig für das Kino und seine wirtschaftlichen Hintergründe interessiert, selbst gedacht hat. Natürlich sind eigenwillige, sich den gängigen Mustern entziehende Filme extrem schwer zu finanzieren. Natürlich ist es einfacher eine ganz kleine Independent-Produktion zu realisieren als ein Projekt, das sich wie „The Last Tango in Tikrit“ auch in wirtschaftlicher Hinsicht zwischen alle Stühle setzt. Doch auch dieses Wissen nimmt Tobacks wundersamem Trip durch das Wunderland Cannes nichts von seinem Reiz. Und dabei spielt es letztlich dann auch keine Rolle, ob „Der letzte Tango in Tikrit“ nur ein einziges Hirngespinst ist, ein bloßer Vorwand für die Arbeit an „Verführt und verlassen“ oder eben doch eine ernsthafte Option, die sich einfach nicht realisieren lässt.
Verführt und verlassen – das ist für Toback die wahre Realität des Filmgeschäfts wie auch der Kinokunst. Der Filmemacher lässt sich von einer Idee und einer Hoffnung verführen, um dann von denen verlassen zu werden, die er für deren Umsetzung braucht. Aber Toback selbst ist auch einer dieser Verführer, ein narzisstischer Egomane, der Neve Campbell („Scream“) mit der Hauptrolle in seinem „Letzter Tango“-Remake lockt und ihr verspricht, sie gegen alle Zweifel und Gegenvorschläge zu besetzen. Doch als ihn potentielle Geldgeber bedrängen, ist von der Hauptrolle bald nicht mehr die Rede. So läuft es in den Traumfabriken der Welt. Ein Wort wird gegeben, um es zu brechen. Jeder wird verführt und dann verlassen. Dieses brutale Spiel setzt Toback mit ungeheuer leichter Hand in Szene. Das ist in diesen Momenten wahrscheinlich sogar inszeniert und war vielleicht von Anfang an mit Neve Campbell abgesprochen, die 2004 bereits die Hauptrolle in Tobacks „When Will I Be Loved“ gespielt hat. Diese Vermutung lässt der Regisseur zumindest im Raum stehen - und dennoch bleiben seine Beobachtungen absolut wahr.
James Tobacks Kino war schon immer eines absoluter Wahrhaftigkeit. Dabei hat er sich nie für die klassischen Trennungen zwischen Dokumentar- und Spielfilmen, zwischen Kunst und Leben, Autobiographie und Fiktion interessiert. Seit seinem Regiedebüt „Finger – Zärtlich und brutal“ haben seine Spielfilme immer etwas Dokumentarisches, während seine Dokumentationen (zuletzt ein Porträt des ehemaligen Boxweltmeisters „Tyson“) immer wieder auch durch die Nähe zum Fiktiven geprägt sind. Diese Mischung, die eher philosophischen Ideen und Konzepten als Kinokonventionen verpflichtet ist, gibt einer höheren und zugleich tieferen Wahrheit Ausdruck. Einer Wahrheit, die sich im Glitzern des Filmfestivals genauso wie in der Skrupellosigkeit von Produzenten und in der Egozentrik einiger Milliardäre offenbart.
Aber Toback sucht eben nicht nur nach der Wahrheit des Big Business und des großen Geldes, sondern auch nach der, die sich nur in der Kunst und dort vor allem in den unvergänglichen Meisterwerken des Kinos verbirgt. Dabei ist das Autobiographische für ihn nicht nur in den eigenen Filmen der zentrale Schlüssel. In den Gesprächen, die er hier mit Filmemachern wie Martin Scorsese und Francis Ford Coppola, Roman Polanski und Bernardo Bertolucci führt, herrscht ein Klima einzigartiger Offenheit. Toback bringt sie dazu, alle Masken und auch alle Schutzmechanismen fallenzulassen. Wenn etwa Martin Scorsese über seinen Vater und seinen Onkel spricht, eröffnet sich ein neuer, zutiefst persönlicher Blick auf das gesamte Werk des Machers von „Taxi Driver“ und „Wie ein wilder Stier“. Auch die anderen Regisseure zeigen sich von einer Seite, die sie bei Pressekonferenzen und anderen öffentlichen Auftritten eher verbergen.
Fazit: „Verführt und verlassen“ ist eher Dokument als Dokumentation. James Tobacks Film, in dem Wahrheit und Fiktion auf extrem eindrucksvolle Weise miteinander verschmelzen, fängt in einer spielerischen Momentaufnahme das Wesen der Filmindustrie ein. Alles ist Lug und Trug, aber manchmal auch die reinste Magie.