Wenn man sich mit versierten Kinogängern über Filmemacher aus nordischen Ländern unterhält, fallen viele Namen: Carl Theodor Dreyer, Ingmar Bergman, Aki & Mika Kaurismäki, Lars von Trier, Roy Andersson, Bille August, Lukas Moodysson, Susanne Bier, Lone Scherfig, Nicolas Winding Refn, Lasse Hallström und viele mehr. Wenn man aber ganz konkret nach einem norwegischen Filmemacher fragt, ist die Chance eher gering, dass sich jemand an Rune Denstad Langlo („Nord“, „Chasing the Wind“) oder Hans Petter Moland („Ein Mann von Welt“, „Einer nach dem Anderen“) erinnert. Stellt sich die Frage: Sind die Namen zu kompliziert oder die Filme zu unterkühlt? Bent Hamer dürfte jedenfalls der international bekannteste (und das heißt in diesem Fall wenig) zeitgenössische Regisseur aus Norwegen sein, immerhin erlebten seine fünf letzten Spielfilme, angefangen mit „Kitchen Stories“ von 2003, allesamt einen regulären deutschen Kinostart. „1001 Gramm“ ist erneut eine eher leise Komödie um skurrile Typen, bei der nur ein unnötiger Ausflug in mystische Gefilde etwas stört.
Marie (Ane Dahl Torp) arbeitet beim norwegischen Eichamt, und dies mit wissenschaftlicher Akribie. Wenn es irgendetwas zu vermessen gilt, kann sie von Kleinstgewichten bis Skisprungschanzen nichts aus der Ruhe bringen. Geht es indes um ihre gescheiterte Ehe, ist sie schnell überfordert. Für Gefühlsangelegenheiten gibt es schließlich keinen universellen Zollstock. Bei einer Dienstreise zum „Kilo-Seminar“ in Paris zeigt sich nach ihrer Begegnung mit Pi (Laurent Stocker), dass Marie genauso fragil ist wie das zu kalibrierende norwegische Referenz-Kilo: Eine winzige Berührung kann zu mikroskopischen Veränderungen führen, die in einem auf absolute Exaktheit abgestimmten Rahmen ein kleines Chaos verursachen...
Als erstes sind in „1001 Gramm“ Roboterhände zu sehen, die mit Gewichten hantieren. Das ist bereits ein deutlicher Hinweis auf das Thema Gefühlskälte und das ganz auf die Arbeit ausgerichtete Leben der Hauptfigur Marie, die ihren ersten Auftritt dann auch mit Brille und Samthandschuhen absolviert. Wenn sie dann später in ihrem kleinen Elektroauto durch ein durchstrukturiertes Suburbia fährt, wirkt Norwegen wie ein einziger Albtraum aus steriler Architektur, in dem nur gelegentliche Blauflächen für eine gewisse Heimeligkeit sorgen. Die Kulisse passt perfekt zu Maries unter Verschluss gehaltenem Innenleben und so vermeidet sie auch jede persönliche Begegnung mit ihrem Ex-Mann, der gelegentlich noch ihm gehörende Dinge aus dem einst gemeinsamen Domizil (supermodern und viel zu groß) abholt. Der andere Mann in Maries Leben ist ihr Vater Ernst (Stein Winge), dessen wissenschaftliche Arbeit sie weiterführt, mit dessen Heimatverbundenheit sie aber eher weniger anfangen kann. Als er einen Herzinfarkt erleidet und mit seiner Tochter über Erbschaftsfragen sprechen will („Willst Du den Hof übernehmen?“), geschieht dies schon deutlich außerhalb von Maries Komfortzone.
Erst der Ausflug nach Paris, in die Stadt der Liebe, bringt zarte zwischenmenschliche Töne in den Film (samt Sonnenstrahlen und fröhlicherer Musik), doch auch nicht sofort. Bei der Zusammenkunft der europäischen Wissenschaftler wird zunächst die leichte Ironie potenziert, die man zuvor schon beim ehrfurchtsvollen Umgang mit dem unter mehreren Glasglocken versteckt gehaltenen norwegischen Kilogewicht erleben konnte, das zuletzt vor 20 Jahren aus dem Safe geholt wurde. Der visuelle Humor des Films erinnert dabei teilweise an die Werke von Jacques Tati („Mein Onkel“, „Playtime“), das Nonplusultra der Absurdität ist hier eine lange Prozession von Magritte-artigen „Kilo-Wächtern“, die unter denselben blauen Regenschirmen allesamt dieselben Kiloboxen durchs Filmbild tragen. Später konzentriert sich Hamer dann stärker auf die Kollision zwischen Wissenschaft und Zwischenmenschlichem (wie er sie noch deutlicher bereits in „Kitchen Stories“ untersucht hat) und da ist die Besetzung der diesmal weiblichen Hauptrolle (sonst setzt der Regisseur bevorzugt auf kauzige Frührentner) entscheidend. Ane Dahl Torp macht Marie trotz ihrer kühlen Zurückhaltung zur echten Identifikationsfigur. Sie lässt jederzeit menschliche Wärme spüren und so wünscht man der Protagonistin von Herzen eine sanfte Romanze mit „Pi“ (die Kurzform von Pilatus ist in dem wissenschaftlichen Umfeld natürlich sehr symbolkräftig).
Während die Wirkung dieser Liebelei auch von überlangen Sonnenuntergängen und dem gemeinsamen Lauschen zwitschernder Distelfinken (mit Richtmikrofon) nicht beeinträchtigt wird, walzt Regisseur Hamer die metaphorische Bedeutung von Gewichten (und Maßen) zunehmend überdeutlich aus. Der Vater will sein Leben „in die Waagschale legen, damit am Schluss alles in Balance ist“, ein Vorgesetzter zitiert Shakespeares „Maß für Maß“ mit Verweis auf die entsprechende Bibelstelle (Matthäus 7.2), schlussendlich ist ein Behältnis mit sterblichen Überresten kaum von der norwegischen Kilobox zu unterscheiden. Dies kulminiert in zwei von langer Hand vorbereiteten Schlussgags, von denen einer den Film mit seiner mystischen Schwere fast erdrückt, während der andere so leichtfüßig daherkommt, dass man es kaum glauben kann. Der unerwartete „Size Matters“-Sparwitz setzt einen optimistischen Schlussakkord unter die Geschichte zweier echter Nerds, die neue Möglichkeiten gefunden haben, ihre Spleens auszuleben. Dafür kann man sich dann auch fast mit den aufgesetzten Anleihen bei Alejandro G. Iñárritu („21 Gramm“) anfreunden.
Fazit: „1001 Gramm“ ist eine subtile Komödie, die mitunter zu schwer an ihren großen Themen trägt. Regisseur Hamer beherrscht dabei die Poesie der Präzision einen Hauch besser als die Präzision der Poesie.