Der unbekannte Regisseur Tomáš Luňák hat „Alois Nebel“ geschaffen und von der EFA (Europäische Filmakademie) 2012 die Auszeichnung „Bester Europäischer Animationsfilm“ erhalten. Es handelt sich um die Verfilmung eines in schwarz-weiß bebilderten Comic-Romans um den Eisenbahner Alois Nebel, der in Tschechien seit Jahren bekannt ist.
Tschechoslowakei, Altvatergebirge 1989: Alois Nebel arbeitet am Bahnhof in Bílý Potok nahe der polnischen Grenze. Er führt ein ruhiges Leben, liest alte Fahrpläne laut vor sich her und hat Halluzinationen, anscheinend wegen verdrängter Erlebnisse aus seiner Kindheit, der Zeit des Zweiten Weltkriegs und dessen Folgen, insbesondere der Vertreibung der Sudetendeutschen. Ein Fremder, der kurz zuvor von Polen her illegal die Grenze überschritten hatte, wird am Bahnhof verhaftet. Nebel kommt aufgrund seiner Wahnbilder und wegen einer Intrige des Wachek, der auf Nebels Posten spechtet, ins Sanatorium. Er trifft dort wieder auf den Grenzübertreter, der nicht spricht und etwas mit den damaligen Ereignissen zu tun hat. Nebel versucht nach erfolgloser Therapie, mehr über seine Vergangenheit zu erfahren und seinen Arbeitsplatz wiederzubekommen. Er macht sich auf einen Weg, der ihn in Sackgassen führt, aber auch mit Helfern aufwartet.
Der Film fesselt den Zuschauer von Beginn an mit der plastischen Darstellung (alles ohne 3D-Brille) und der stimmungsvollen Musik. Es entfaltet sich eine ganz eigene Ästhetik, die ausschließlich bestaunt werden kann. Das Geheimnis liegt nicht nur im Rotoskopie-Verfahren, dass seit 1914 und noch heute bei Realfilmen zumindest für bestimmte Sequenzen eingesetzt wird und die Bewegungen von Lebewesen (hier: Menschen und Nebels Katze) echt und geschmeidig aussehen lassen: Die Gesichtszüge der Figuren sind – dem Comic entsprechend - scharf gezeichnet. Die Charaktere werden dadurch mitbestimmt. Das ist zwar für die Unterscheidung ganz gut, nimmt jedoch dem Zuschauer die Gelegenheit zur Selbsteinschätzung. Ferner sind Detailfülle (Bildhintergründe) und Detailarmut (Gegenstände im Vordergrund) kombiniert, sodass ein räumlicher Effekt entsteht. Alle Bilder sehen somit ausreichend abstrakt aus, so dass der Uncanny-Valley-Effekt nicht eintritt (bitte bei Wikipedia nachlesen).
Die ruhigen Phasen der Geschichte, die gezielt beschaulich erzählt werden und die zurückhaltende Ausstrahlung Nebels unterstützen, stehen im passend gewählten Verhältnis zu den erheblich wenigeren, hektischen Szenen mit ihren drastischen Bildern und geben der Dramaturgie dadurch mehr Nachdruck. Zu den wenig beleuchteten politischen Geschehnissen steht die Aufklärung der vom kleinen Alois erlebten Ereignisse im Vordergrund. Das ist auch gut so, denn Staatshistorienunterricht würde zur Geschichte des kleinen Mannes, die bewegend genug ist, nur störend wirken.
Auf seinem Trip erlebt Nebel für die Verhältnisse seines bisherigen Daseins fast zu viel und kann nur schwierig mit diversen Situationen umgehen, was die Glaubwürdigkeit seines Charakters und der Begebenheiten stärkt.
Allmählich nimmt Helligkeit und Erkenntnis den Platz der schwarzen Brühe in Nebels Erinnerungen ein. Der stumme Fremde vollendet sein Vorhaben.
Und im Publikum sitzen überwiegend Menschen mit mindestens dem Lebensalter des heutigen Alois Nebel, gebannt von der Atmosphäre und hellwach bis zur letzten Minute dieses mehr als beeindruckenden Films.