BIS DASS DER TOD UNS SCHEIDET
von Michael Grünwald / filmgenuss.com
Zehn Jahre hat es gedauert, bis ich mich imstande sah, mir Michael Hanekes wohl erfolgreichstes filmisches Werk zu Gemüte zu führen. Liebe ist schließlich kein Streifen, welchem man sich einfach so zwischendurch oder gemütlich, nach einem anstrengenden Tag, aussetzen möchte. Liebe ist auch nichts zur Unterhaltung oder zur Zerstreuung, sondern etwas, das dem Zuseher eine gewisse Bereitschaft abverlangt, das zu Sichtende entsprechend zu fokussieren. Das Kammerspiel um die Opferbereitschaft von zwei alten Menschen birgt überdies Inhalte, die so sehr mit dem realen Alltag zu tun haben, dass man selten bereit dazu sein mag, die eigene Freizeit mit derlei Problemen zu belasten. Denn wer kennt sie nicht: die eigenen Eltern oder Großeltern, daheim oder im Heim darniederliegend und wartend auf das Grande Finale, auf den Wechsel vom Diesseits in eine andere Daseinsform, weil das Diesseits überhaupt nichts mehr besitzt, wofür es sich zu atmen lohnt. Da sind eine ganze Menge Emotionen mit im Spiel, Trauer und Verlustangst, bittere Melancholie und vielleicht auch Wut. Vor allem aber Verzweiflung und Tränen. Diese alten Menschen hier könnten frappante Ähnlichkeiten mit der eigenen weiter gefassten Biographie aufweisen – doch das sind nur Zufälligkeiten. Nicht aber für Michael Haneke selbst, der seine Geschichte autobiographisch gefärbt hat. Und man darf sich von einem nicht in die Irre führen lassen: dass Haneke, der mit vielen seiner Filme schon verstört hat, dieser Ambition auch nicht immer folgen will. Das verhält sich so ähnlich wie David Lynch und seinem tragikomischen Ausreißer The Straight Story. Auch Lynch kann anders – warum nicht auch Haneke? Und dem ist auch tatsächlich so: Liebe ist des Meisters zugänglichster und behutsamster Film. Er schockiert nicht, übertreibt nicht und quält nicht. Er mag zwar in seiner fortlaufenden Handlung radikale Maßnahmen ergreifen, doch je genauer man diese betrachtet, um so mehr setzt Liebe auf eine nonkonforme, aber nüchtern betrachtet zutiefst humane Schrittsetzung.
Haneke, der gerne französisch filmt, vereint in einer noblen Wohnung irgendwo nahe des Zentrums von Paris ein Leinwandehepaar, deren Namen Filmkenner in den Ohren klingeln: Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva (Durchbruch mit Alain Resnais Hiroshima, mon amour). Für beide dürfte dieses Konzept eines um die elementarsten Dinge des Lebens handelnden Kammerspiels ein Anliegen gewesen sein – vielleicht auch, um eigene Ängste und Sehnsüchte zu verarbeiten. Beide lassen, sofern sie diese je gehabt haben, Eitelkeiten und Allüren vor der Haustür und sind, was sie sind: aufs Wesentliche reduzierte Liebende. Evira, deren Schauspiel hier kaum zu toppen ist, gibt die pensionierte Klavierlehrerin Anne, die eines Morgens am Frühstückstisch einen Schlaganfall erleidet – dies führt zu einer missglückten Operation, die den verheerenden Fortschritt einer solchen Krankheit letztlich auch nicht aufhalten kann. Anne ist halbseitig gelähmt und wird zum Pflegefall, will aber partout in kein Krankenhaus. Georges respektiert dies, will seine bessere Hälfte auch nicht umstimmen, und tut, was in seiner Macht steht, um seine Lebenspartnerin im letzten Abschnitt ihres Daseins zu pflegen. Was sogar machbar gewesen wäre, würde es nicht rapide bergab gehen. In diesem degenerativen Mahlstrom sieht sich Georges gezwungen, zum Äußersten zu greifen. Im Sinne seiner großen Liebe.
Es gestaltet sich schwierig, einen Film, der von Kritikern lobgepriesen und mit Auszeichnungen überhäuft wurde, unvoreingenommen zu betrachten. Sind da andere Meinungen überhaupt möglich, ohne dass impliziert werden kann, diese Art Kunst nicht verstanden zu haben? Diese Frage muss ich mir zum Glück nicht beantworten – Liebe ist ein präzise ausformuliertes, streng komponiertes Ereignis und soweit vom Kitsch und anderen Sentimentalitäten entfernt, dass man diesen Film fast schon einem anderen Genre zuordnen möchte. Michael Haneke ist ein Meister der Reduktion – hier treibt er das Weglassen offensichtlicher narrativer Elemente an die Spitze. Seiner Vorliebe für das indirekte Spiel, Stimmen außerhalb des Blickfelds und halb geöffneten Türen gewährt er die Chance, ein strenges Alphabet zu kreieren, dass nichts dem Zufall überlässt. Bleiben Emotionen da außen vor? Zumindest solche, die aus Mitgefühl Mitleid heischen würden. Daher ist Liebe kein bleiernes Bestürzungsdrama, sondern unerwartet schwerelos und leicht, pragmatisch und von endgültigen Entscheidungen geprägt. Hanekes Film ist eine Begegnung mit dem Schicksal, ohne dieses zu verachten. Und genau in dieser Methode liegt überraschend viel Trost.
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