‚Shame‘ ist ein sehr unangenehmes Portrait eines Sexsüchtigen, das aber herausragend inszeniert wurde. Michael Fassbender überzeugt auf ganzer Linie und wurde meiner Meinung nach klar einer Oscarnominierung beraubt.
Trotz einer theoretischen Nähe zu seinem Charakter Brandon (man sieht alles…) bleibt er seltsam distanziert. Die Sexszenen, in denen ein Mensch sich einem anderen normalerweise öffnet, verschließt Brandon seinen Charakter vollkommen und gibt sich nur der Sucht hin. Daher kommt auch keine wirkliche Erotik auf (obwohl ich Michael Fassbender verdammt geil finde ;-) ). In diesen und weiteren Szenen (z.B. wenn seine Schwester singt) empfindet man Sympathie und Mitleid für Brandon. Diese Gefühle werden jedoch schnell wieder weggespült, wenn er ganz plötzlich so einen Selbsthass empfindet, dass dieser in Aggressionen oder Notgeil-Sex (meist mit Prostituierten) an die Oberfläche kommt. Und wenn er dann tatsächlich mal eine Frau trifft, die ihm wirklich gefällt, hat er Probleme sich ihr auch auf Gefühlsebene zu öffnen.
Man kann bei ‚Shame‘ klar McQueens Handschrift erkennen, wenn man schon ‚Hunger‘ gesehen hat (nach genau 2 Spielfilmen schon eine eigene Handschrift zu haben, ist natürlich auch schon eine Leistung). Es gibt viele lange Kameraeinstellungen und Schnitte(natürlich nicht wie die 25-Minuten-Einstellung wie bei Hunger, aber trotzdem länger als Durchschnitt) und es wird sehr viel auf Details geachtet. Beispiele hierfür wären die Graffitis und Werbetafeln im Hintergrund, auf denen so etwas wie ‚No Shame‘ und ‚Fuck‘ steht, während Brandon sich gerade seinen Bedürfnissen auf offener Straße hingibt. Die (eher spärlichen) Dialoge sind auf den Punkt gebracht. Besonders bei denen zwischen Brandon und seiner Schwester wird nach nur wenigen gesprochenen Worten klar, wie unterschiedlich die beiden sind. Generell legt McQueen sehr viel Wert auf Authentizität, weshalb auch nichts verdeckt wird. Wäre ja auch irgendwie unsinnig, ein Drama über Sex zu drehen, aber die Sexszenen nur anzudeuten, wie es ja überall sonst gemacht wird. Wie gut, dass er dafür den Kompromiss des R-Ratings eingegangen ist, anstatt die Nacktszenen herauszuschneiden. Doch nicht nur wegen der ‚full-frontal nudity‘ ist das R-Rating berechtigt, besonders wegen des ‚Adult subject matter‘, wie das hier so schön genannt wird. Ich bezweifle, dass pubertierende Teenager so einen Film ernstnehmen könnten, geschweige denn verstünden. Trotzdem wird der Film doch überraschend verbreitet gezeigt und als ich im Kino saß, war der Saal sogar ausverkauft, entgegen der Erwartung, dass das R-Rating die kommerziellen Kinos abschrecken könnte.
Insgesamt kann ich sagen, dass sich der Film auf jeden Fall lohnt. Das Thema der Sexsucht wurde nach meinen Kenntnissen noch nicht so betrachtet, ähnelt aber sehr den anerkannten Süchten nach Alkohol und Drogen. Da die Sexsucht momentan auch immer mehr Medieninteresse anzieht, war dieser Film schon fast überfällig. ‚Shame‘ ist auf eine Weise faszinierend, andererseits aber auch sehr schwer zu ertragen, da er halt unter der Gürtellinie spielt. Auch in dieser Art ähnelt er ‚Hunger‘, durch den ich mich eher durchgekämpft habe, anstatt, dass ich ihn hätte genießen können.
Und jetzt noch zur FS-Kritik: anscheinend wurde ein politisches Drama erwartet, wie ‚Hunger‘ es eins war, allerdings ist es ein Portrait, das sogar teilweise biographisch angelehnt ist. Es geht darum, dass dieser Brandon versucht, oberflächlich ein normales Leben zu führen, unterschwellig aber schwer gestört ist. Das einzig politische, was ich daran erkennen kann, ist, dass man vielleicht mal die Debatte starten könnte, Sexsucht auch offiziell anzuerkennen. Dass die New Yorker oft einsam sind und aneinander vorbeileben, ist allgemein bekannt, die Beleuchtung dieses Problems ist aber nicht die Hauptintention von ‚Shame‘ gewesen.