Sie hatte Tausende Männer und liebt eigentlich die Frauen. Sie verkauft ihren Körper, aber nicht ihre Ehre. Sie könnte reich sein, doch sie hat gelebt.
Seit 35 Jahren arbeitet Sylvia Leiser auf dem Autostrich in Bern. Hier heisst sie Frau Mercedes, wie ihr Auto, das ihr als Arbeitsort dient. Den Wandel im Milieu hat Sylvia hautnah miterlebt: Bordelle wurden legalisiert und gleichzeitig ist das Gewerbe gesetzloser geworden, die Prostitution hat an gesellschaftlicher Akzeptanz gewonnen und dabei an Glamour und Verdienstmöglichkeiten verloren, die Zahl der Freier blieb stabil, doch in Bern arbeiten zehn Mal mehr Frauen im Milieu. Heute verdient Frau Mercedes in einem Monat, was sie früher in einem Tag einnahm.
Der Autostrich ist ein Relikt aus verganenen Tagen, bald wird er verschwinden. Noch sieben Frauen warten auf Kunden – die jüngste ist 55 Jahre alt, die älteste 74. Prostituierte, die noch den alten Regelkodex befolgen. Frauen von einem anderen Schlag, wie der Berner Sittenpolizist Ernst Jost sagt. Freundschaften gibt es auf dem Autostrich keine, aber man schaut zueinander.
Früher lebte Sylvia in Saus und Braus. Mit leiser Wehmut erinnert sie sich an die «goldenen Jahre» zurück, die Zeit der Nerzmäntel, amerikansichen Sportwagen und der Illussion, dass die gute Zeit ewig anhalte. Heute führt die 60-Jährige in einem Bieler Wohnblock ein bescheidenes, etwas einsames Leben. Sie könnte Häuser besitzen, sagt Sylvia, doch sie habe gelebt.
Die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen, auch einige Wunden. Sylvia habe sich eine Mauer aufgebaut – genial für die Arbeit, hinderlich im Privaten, sagt Martha Wigger von der Beratungsstelle Xenia. In Sylvias Wohnung hängt eine Fotocollage mit ihren Liebschaften, von den vielen Frauen ist keine geblieben. Ihr Bett teilt Sylvia mit Samona, ihrem Pudel. Lieber lebe sie alleine, als dass sie verletzt werde, sagt sie.