Jedes Wort zur Handlung von Prisoners ist eigentlich zu viel des Guten und jede Kritik an dem neuen Kriminal-Thriller von Denis Villeneuve nur eine kleine, graue Wolke an einem ansonsten strahlend blauen Himmel. Denn in Prisoners leuchtet einfach alles. Ob Drehbuch, Darsteller oder Musik, wirklich nichts und niemand lässt sich hier von der tristen Grundstimmung des verschneiten Settings ablenken und erfüllt dieses stattdessen voller Tatendrang mit Leben. Natürlich ist es eine grausame Geschichte, aber eben auch eine, die in dieser Form erzählt werden muss. Mit der gleichen Mühe, die die Macher an den Tag gelegt haben, soll daher auch diese Kritik geschrieben werden, denn das ist man diesem Meisterwerk schuldig.
Bild aus Prisoners Es ist Thanksgiving und bereits die erste Szene des Films verrät vieles über die Figur Keller Dover (Hugh Jackman) und den elementaren Konflikt, den er im Laufe der Erzählung mit sich austragen muss. Nach einer Rehjagd mit seinem Sohn klärt er diesen über die Wichtigkeit der Vorbereitung im Allgemeinen auf. "Sei bereit", das hat schon früher sein Vater ihm beigebracht. Er ist ein Mann der Kontrolle, aber das, was im späteren Verlauf dieses Festtages passiert, unterliegt keiner Kontrolle mehr - oder zumindest nicht seiner. Seine kleine Tochter wird zusammen mit der eines gut befreundeten Ehepaares (Viola Davis und Terrence Howard) fast vor der eigenen Haustür entführt. Keine Spuren, keine Hinweise. Dafür ist Keller nicht bereit, übertritt für die Rettung der Kinder jedoch bewusst viele Grenzen. Diese Rückgewinnung der Kontrolle entpuppt sich aber schon bald als eine moralische Zwickmühle, eine Gefangenschaft.
Auch der zweite Protagonist, Inspector Loki (Jake Gyllenhaal), wird mit einer eindringlichen ersten Szene eingeführt, die jedoch weniger über seine weiteren Absichten verrät. Loki hält sich, anders als Keller, an diesem Feiertag allein in einem Restaurant auf. Eine Familie scheint der blasse Ermittler nicht zu haben, aber ausgerechnet er übernimmt den Fall der entführten Mädchen. Das führt natürlich zu Spannungen zwischen der Opferfamilie und ihm. Setzt Loki wirklich alle ihm verfügbaren Mittel ein, um die Kinder zu retten? Kann er überhaupt annähernd das nachfühlen, was Keller empfindet? Loki versucht es, wird aber immer wieder von dem Gesetz, dem er sich selbst verpflichtet hat, niedergerungen. Er ist ebenfalls gefangen in einem System der offiziellen Gerechtigkeit.
Der meisterliche Touch dürfte sich nicht bei jedem gleich von Anfang an bemerkbar machen, denn zunächst erinnert das Werk mit seiner Story rund um besagte doppelte Kindesentführung mehr an andere Leinwandabenteuer, als dass sie sofort selbst erinnerungswürdig erscheint. So werden Filmkenner bei der Thematik und der düsteren Grundstimmung wohl sofort an Clint Eastwoods Mystic River denken müssen, während viele andere bei der verworrenen Suche nach dem Täter womöglich noch den gar nicht so alten Zodiac - Die Spur des Killers-Streifen von David Fincher - passenderweise auch mit Schauspieler Jake Gyllenhaal in einer Rolle - im Kopf haben. Ist die Kriminalgeschichte deswegen nicht eigenständig? Nein! Ganz im Gegenteil, Erzählung und Inszenierung könnten hier überhaupt nicht eigenständiger sein und unterscheiden sich auch deutlich durch die oben genannten Filmkollegen. Der Familienvater Keller Dover, der sich aufgrund schlampiger Polizeiarbeit irgendwann selbst auf die Suche nach dem Entführer macht oder der leitende Ermittler Loki, der seine eigenen Prinzipien nach und nach zu hinterfragen beginnt, mögen als Schablonen schon in unzähligen Produktionen Verwendung gefunden haben. Aber selten wurden die Endprodukte so glaubhaft ausgestaltet wie in diesem Fall.
Das liegt vor allem an den unverschämt guten Darstellern. Der Cast ist nicht nur quantitativ, sondern ebenso qualitativ eine Wucht. Jackman und Gyllenhaal stehen natürlich im Mittelpunkt und nutzen diese Chance für ein darstellerisches Erdbeben. Jackman übernimmt dabei häufig den emotionaleren Part, reißt den Zuschauer durch seine tiefe Entschlossenheit mit und verschreckt ihn mit seinen kraftvollen Wutausbrüchen. Jake Gyllenhaal agiert dagegen viel subtiler und undurchsichtiger. Seine Figur soll über die gesamte Laufzeit ein Rätsel bleiben, aber dennoch kein Übermensch. Deswegen hat sich Gyllenhaal, neben vielen anderen Eigenheiten, für den Streifen einen Tic angewöhnt, den er konsequent durchzieht und seine Figur so verletzlich erscheinen lässt. Es sind Bestleistungen der beiden Mimen! Weiterhin unterstützt ein sorgfältig ausgearbeitetes Drehbuch die Darsteller bei ihrer Arbeit, das die Suche nach dem Entführer nicht nur für die Protagonisten zu einem spannungsgeladenen Verwirrspiel macht. Am Ende werden dann alle losen Handlungsstränge überragend zusammengeführt und das überraschende Finale wird wahrscheinlich dem ein oder anderen den Atem rauben, denn es gehört in der Nachbetrachtung zu den besten seines Genres.
Es gibt einen Aspekt, der Prisoners nicht nur sehr gut, sondern brillant werden lässt: das Herz. Wie oft ärgert man sich im Kino bei so vielen Thrillern über das Fehlen von gefühlsbetonten Momenten. Auf der Suche nach wahrer emotionaler Wärme stößt man filmisch hier meist auf taube Ohren. Ausgerechnet Villeneuve, dessen visuelle wie inhaltliche Gestaltung gar nicht erdrückender und kühler sein könnte, schafft sich in dieser Hinsicht ein Schlupfloch. Das gelingt ihm mit der Hilfe von Gott, was durchaus ernst gemeint ist. Sicher, der heilige Vater wird dem Regisseur bei so einem Überwerk auch hinter der Kamera zur Seite gestanden haben, aber für die Filmfiguren spielt der Allmächtige mindestens eine ebenso große Rolle. Motive dafür findet man immer wieder, seien es das Kreuztattoo an Lokis Hand, die Kette von Keller oder der Score von Johan Johannsson, durch den sich ab und zu sakrale Elemente ziehen. Gott ist allgegenwärtig und die Charaktere bitten auf unterschiedliche Weise um seine Hilfe bei schwierigen Entscheidungen. Ob er wirklich hilft, erfährt man nicht, Villeneuve erlaubt sich kein Urteil über Gott und auch nicht über die Moralvorstellungen seiner Hauptdarsteller, die natürlich das zweite Standbein des Films stellen. Wer den Film gesehen hat, wird erkennen, dass jeder diese Entscheidung für sich selbst treffen muss. Stattdessen nutzt er diese größtenteils irrationalen Versatzstücke dazu, dem ganzen Werk in einigen Momenten eine märchenhafte, gar surreale Note zu verleihen, die sich auch visuell ganz eindeutig niederschlägt.
Prisoners bietet alles, was das Filmherz begehrt und noch mehr. Ein spannendes Drehbuch, eine perfekte Inszenierung, elektrisierende Schauspielleistungen von Jackman und Gyllenhaal, sowie überhaupt jede Menge Herzblut, wo auch immer die Kamera gerade hinschwenkt. Dazu gesellt sich ein wichtiges Thema mit einer unkonventionellen Botschaft, die auch nach dem Kinobesuch für reichlich Diskussionsstoff sorgen dürfte. Ob die Wirkung des Films bei einer zweiten Sichtung an Zauber verliert, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen, aber zumindest einmal muss man sich von diesem filmischen Hochgenuss - dieses Wortspiel sei erlaubt - gefangen nehmen lassen. Villeneuve schenkt uns mit seiner neusten Regiearbeit eines der besten Kinoerlebnisse der vergangenen Jahre!