Der mexikanische Regisseur Alfonso Cuarón hat nach reichlich Bearbeitungszeit zugunsten Augen und Ohren der Kinobesucher „Gravity“ erschaffen.
Matt Kowalsky (George Clooney) und Dr. Ryan Stone (Sandra Bullock) arbeiten außerhalb des Space Shuttle im Weltall. Als Houston (Sprecher Ed Harris) vor Trümmerteilen eines russischen Satelliten warnt, ist fast alles zu spät, nur Kowalsky und Dr. Stone überleben. Da die Luft knapp wird und das Shuttle flugunfähig ist, müssen sich die beiden etwas einfallen lassen, festen Boden unter die Füße zu bekommen. Die Raumstation ISS ist in der Nähe.
Eins steht fest: Dieser Film ist grafisch überwältigend und neben der (fast immer) überzeugenden Darstellung von Bewegungen in der Schwerelosigkeit mit einem interessant klingenden Score untermalt, der den Thrill in die Höhe treibt. Besonders erwähnenswert sind die smooth geführten Kameraschwenks, die im Helm von Dr. Stone enden und aus ihrer Sicht an rudernden Handschuhen vorbei die rotierende Unendlichkeit gepaart mit Hilflosigkeit zeigen; das hätte etwas mehr sein dürfen, denn Kontinuität wirkt Effekthascherei entgegen der nicht nur zeitweise Blick durch ein beschlagenes Visier mit dem Atem und dem Herzklopfen im Hintergrund ist unheimlich unheilstimmungsvoll. Wenn dann die beiden schwierig manövrierbar durch Trümmer fliegen und auf Raumschiffwände treffen, durchzuckt das dank des spannungsfördernden Bildschnitts auch diejenigen Körper, die mit genügend klimatisierter Luft versorgt im Sessel vor der 3D-Blockbuster-Kinoleinwand sitzen.
Der erfahrene Astronaut Kowalsky wird als coole Socke dargestellt, der mit seinem luftdüsengesteuerten Anzug ungesichert durch den Weltraum tanzt und die unerfahrene, entsprechend nervöse Dr. Stone (weniger gut ausgestattet und angeleint) arbeiten lässt. Das macht auch dem Zuschauer Spaß. Clooney steuert neben Luft auch seine Qualitäten bei und spielt stilsicher den Weltraumhaudegen, der Sprüche klopft, aber auch bei ausbrechendem Chaos seine Erfahrung einsetzen kann.
Das Vergleichsprodukt ist aber nicht „Space Cowboys“ (2001 von Clint Eastwood), sondern „Apollo 13“ (1995 von Ron Howard). Die Verfilmung des 1970 tatsächlich geschehenen Unfalls inkl. Rettung der drei Weltraumfahrer ist zweifelsohne ein Meisterwerk, welches „Gravity“ lediglich grafisch hin-terher hängt. Der hauptsächlich als Produzent tätige Cuarón (aber auch Regie z.B. „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“, „Children of Men“) wollte den Zuschauern ein Epos geben. Dabei ist das Grundgerüst der Geschichte „Apollo 13“ noch gleichgestellt, denn „Gravity“ spielt nicht in der Zukunft. Space Shuttles fliegen nicht mehr, Hubble, ISS und die chinesische Station Tiangong mit Sojuskapseln sind immer noch Gegenstände des täglichen Zeitgeschehens. Mit 44 Minuten weniger Spielzeit zeigt der aktuelle Film nur die Handlung ab dem Zeitpunkt kurz vor dem Unfall. Die Besatzung der Apollo 13 konnte mit viel Improvisation und Hilfe aus Houston (übrigens auch mit Ed Harris) die Rettung ermöglichen. Bei Ron Howard gibt es zwar kleine Abweichungen vom tatsächlichen Handlungsablauf, aber er benötigte keine Ergänzungen, um die Spannung künstlich in die Höhe zu treiben. Für „Gravity“ musste sich der Regisseur, der mit seinem ältesten Sohn das Drehbuch schrieb, eine Geschichte mit allen Details ausdenken und bediente sich den o.g. Gegebenheiten der Weltraumforschung. Das Problem besteht offensichtlich darin, dass Cuarón die entstehende Lebhaftigkeit und Spannung zu gering eingeschätzt hat und ordentlich über das Ziel hinausschießt: Weil in vielen Situationen das Gewollte auf die letzte Sekunde oder den letzten Zentimeter noch gelingt, treibt der Regisseur die Story in eine immer mehr unglaubwürdige Darstellung der dramatischen Geschehnisse.
Zu Beginn des Films wird beschrieben, dass im lebensfeindlichen Weltall wegen der Luftleere eine Schallübertragung nicht möglich ist. Vielleicht eine Neuigkeit für viele, die bisher im Blockbusterkino bei Weltraumschlachten mit besten Surroundsound-Explosionen versorgt wurden. Es ist dann ein wenig peinlich, dass dies auch bei „Gravity“ stellenweise hollywoodlike zur zusätzlichen Dramatisierung fortgeführt wird. Insbesondere der krachige Trailer soll hier das Actionfilm-Publikum anlocken. Welch eine Beklemmung hätte der Film erzeugen können, wenn man eben nur noch Atem und Stimmen in Panik hört, nachdem lautlos fliegende Trümmerteile den Lichtblitzen folgen!? Wer versucht das mal konsequent?
Matt Kowalsky wird dann - seilverbandelt mit der an der ISS selbst nur noch labil gehaltenen Dr. Stone - von irgendetwas ins Weltall gezogen - wahrscheinlich von den phantasieschwangeren Drehbuchautoren - und fühlt sich gezwungen, die zwischenmenschliche Beziehung vorübergehend zu stärken und die physikalische für immer zu trennen. So leitet die Schmieren-Space-Theatereinlage in das Ein-Personen-Stück über, das ab nun personell aus Sandra Bullock besteht. Dr. Stone ist in ihrer letalen Umgebung eher hibbelig als verzweifelt, denn sie hat alle Handgriffe an der Gerätschaft vor dem Raumtrip drillmäßig eingeübt; die Unerfahrenheit macht ihr zu schaffen. Und die Darstellung dieses Verhaltens meistert Sandra Bullock problemlos. Sie wird jedoch von den Filmemachern getrieben, durch die Szenen gehetzt, weil in den wenigen verbleibenden der 90 Minuten ständig viel passieren muss, dazu mit unnötigen Unmöglichkeiten befrachtet. Es fehlen einfach diese Momente, in denen nichts passiert und zu einer entsetzlichen Geduld zwingen.
Ein packender, visuell überzeugender Film, der keine Szene in Vergessenheit geraten lässt, auch nicht die schlechten. Für Nebenoscars geeignet.