“Im Traum wirkt immer alles real. Dass irgend etwas seltsam war, merken wir erst, wenn wir wieder aufgewacht sind.”
Dom Cobb (Leonardo DiCaprio) ist der Beste seines Fachs. Für große Firmen steigt der Spion in das Unterbewusstsein narkotisierter Menschen hinab und “extrahiert” (entwendet) deren intimste Geheimnisse. Schlecht verdient er daran nicht. Zur Seite steht ihm ein wissenschaftliches Kompetenzteam, das ihm bei den waghalsigen Traum-Streifzügen behilflich ist: die Architektin Ariadne (Ellen Page), die die Traumlandschaften entwirft, der Apotheker Yusuf (Dileep Rao), der die Sedativa anrührt, der Fälscher Eames (Tom Hardy), der die im Traum die Gestalt jeder x-beliebigen Person annehmen kann, sowie Cobbs “rechte Hand” Arthur (Joseph Gordon-Levitt).
Heikel wird es, als der Großindustrielle Saito (Ken Watanabe) Cobb dazu nötigt, eine so genannte “Inception” durchzuführen. Dabei handelt es sich um die Einpflanzung eines Gedanken in ein fremdes Gehirn und somit genau das Gegenteil von dem, womit Cobb und seine Leute normalerweise arbeiten. Ziel der Mission ist, dem Konzernerben Robert Fisher (Cillian Murphy) im Traum die Idee einzupflanzen, das Unternehmen seines dahinscheidenden Vaters zu zerschlagen. Gelänge dies, würde das für Saitos Firma die Vormachtstellung bedeuten - und Cobb wiederum würde die Rückkehr zu seinen beiden Kindern in die Vereinigten Staaten genehmigt. Dort wird er nämlich polizeilich gesucht. Er soll seine Frau Mal (Marion Cotillard) umgebracht haben. Die Sache ist allerdings um einiges komplizierter.
Bei Hollywoods chronischer Kreativflaute gilt Regisseur Christopher Nolan vielen als so etwas wie der Retter in allerhöchster Not. Seine Filme verfügen noch über wirklich originäre Ideen und schaffen es, das Publikum gleichzeitig zu unterhalten und intellektuell zu fordern. Stoffe wie das rückwärts erzählte Krimi-Puzzle “Memento” (2000) oder das doppelbödige Fantasy-Drama “The Prestige” (2006) über das Zerwürfnis zweier befreundeter Magier sind eigentlich Kassengift, wäre da nicht Nolans außergewöhnliches Können und die Mundpropaganda beharrlicher Cineasten, die selbiges zu würdigen wissen. Mit “The Dark Knight” (2008), dem Event-Movie der letzten Jahre, das als Post-9/11-Allegorie weit über das Sujet einer Comic-Adaption hinaus reichte, fasste der Brite erfolgreich Fuß im US-Mainstreamkino, ohne aber vor ihm zu kapitulieren. Fehlt der Big-Budget-Film, der beides vereint: Mainstream und Arthouse, Kunst und Kommerz, die eigenen schöpferischen Vorstellungen und den Geschmack der Masse.
Und da wären wie bei “Inception”. Ein futuristischer Sci-Fi-Actionthriller mit Anleihen auch beim Agentenfilm (u.a. der James Bond-Reihe), der seiner Faszination für die Untiefen der Träume und deren subjektiver Prägung freien Lauf, und sich dabei in einer spröden Metarealität treiben lässt, die Wally Pfister in bestechender Eleganz eingefangen hat. Der Film selbst - an dessen Skript Nolan zehn Jahre (sporadisch) gewerkelt hat - ist ein einziges Paradoxon, wie wir es von den Grafiken M.C. Eschers kennen; und er arbeitet mit solchen Paradoxa: Eine stark befahrene Straße, die sich wölbt und plötzlich auf dem Kopf steht, eine Treppe, die ins gähnende Nichts führt usw. Nolan präsentiert innovative Bilder mit demselben Staun-Effekt, den “Matrix” vor über zehn Jahren provozierte. Dennoch beschränken sich die hier und da gezogenen Parallelen zu dem Wachowski-Kracher auf eine einzige Szene, in der die Teilnehmer des illegalen Experiments schwerelos durch die Luft schweben. Nolan verlagerte das Geschehen auf vier Kontinente, drehte hauptsächlich an Originalschauplätzen. Dem als Ende aller Zeit fungierenden Limbus gewinnt er etwas Dystopisches, fast Apokalyptisches ab - die wie eine Sandburg in sich zusammenstürzenden Hochhauswände sind konsequenter Kulminationspunkt seines gigantischen Trompe-l`oeils.
Nolan entwirft eine eigene Traumlogik bzw. -psychologie, die die Jung`schen Theorien der Ergänzung der persönlichen Traum- “Archtitektur” durch ins Unterbewusstsein abgeschobene Erinnerungen und Details aus dem Alltag lediglich als Basis nutzen. Eine “Inception” sei praktisch unmöglich, “weil der Verstand den Ursprung eines Gedanken zurückverfolgen kann”. Wer gesagt bekommt, er solle nicht an einen Elefanten denken, der denkt automatisch an einen solchen. Dom Cobb jedoch kennt eine Methode. Woher, das erfahren wir am Schluss. Das Durchqueren der verschiedenen Traumschichten, das immer tiefere Eindringen in das geistige Innenleben des Träumenden hat nicht nur eine spezielle Neuanordnung des Raum-Zeit-Kontinuums zur Folge, sondern auch, dass der Träumer seine Geheimnisse leichter preisgibt. Die transzendentale Exkursion birgt aber auch Gefahren, das Gerüst wird brüchiger, je tiefer man in den Traum hinabsteigt. “Kicks” durch Fallen sind der einzige Weg zurück “nach oben”. Seine Nähe zum heist movie stellt der Film indes sehr bildhaft unter Beweis: Der Coup der Spione besteht im “Stehlen” der Geheimnisse aus dem “Safe” des Unterbewusstseins. Zugleich offenbart der Film aber auch ein auf die Filmindustrie bezogenes Gleichnis: profitgierige Produzenten und Drehbuchautoren, die sich (nicht nur durch Remakes, Reboots usw.) der Ideen anderer bemächtigen.
“Inception” paart satte Action mit erzählerischer Finesse, erfordert dabei Konzentration und die Bereitschaft des Zuschauers, die innere Geschlossenheit der Geschichte als solche zu akzeptieren. Die Beziehung zwischen Dom Cobb und seiner toten Frau Mal, die nicht müde wird zu versuchen, Doms Traumausflüge zu sabotieren, gibt dem Zuschauer die nötige emotionale Stütze in der selten festen Boden unter den Füßen spürenden Fantasie Nolans. Zudem die Erinnerung, dass DiCaprio bereits in “Shutter Island” ein Trauma mitsamt spukender Gattin und durch seine Visionen geisterndem Nachwuchs zu verarbeiten hatte. Die (zufällige?) Überleitung in Marion Cotillards Filmographie bildet Edith Piafs “Je ne regrette rien”, welches sich kongenial mit Hans Zimmers tosendem Score arrangiert (Cotillard erhielt 2008 für die Darstellung der französischen Chanteuse in “La vie en rose” den Oscar). Die aus “Batman Begins” und “The Dark Knight” bekannten Schauspieler (Cillian Murphy, Michael Caine, Ken Watanabe) ergänzen sich mit jenen, die das erste Mal mit Nolan zusammenarbeiten, von denen neben DiCaprio und Cotillard vor allem Ellen Page und - im erweiterten Kreis - Joseph Gordon-Levitt überzeugen, zu einem Ensemble, das sich sehen lassen kann.
Alles in allem sollte man Christopher Nolan für einen Film wie “Inception” einfach dankbar sein. Der SF-Actionthriller ist eben nun mal sehr originell, sehr smart, hat Köpfchen und garantiert gepflegte Hochspannung. Enttäuscht kann nur der sein, der - vom Medienwirbel infiziert - in Erwartung eines Jahrhundertfilms ins Kino gegangen ist.