Ryan Bingham führt ein Leben über den Wolken. Im Auftrag seiner Firma ist er in ganz Amerika unterwegs, um für Chefs anderer Firmen einen unangenehmen Job galant aber konsequent zu erledigen: Mitarbeiter feuern. Dabei verfolgt Ryan selbst ein großes persönliches Ziel: als erst siebter Mensch überhaupt will er die Zehn-Millionen-Frequent-Flyer-Meilen-Schallmauer durchbrechen. Doch nicht nur die Begegnung mit der Geschäftsfrau Alex lässt Ryan sein Lebensmodel überdenken, es wird zudem von der aufstrebenden Natalie, die er in seine Arbeit einführen soll, regelrecht gefährdet, als diese zwecks Effizienzoptimierung Kündigungsgespräche per Videokonferenz vorschlägt…
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Es ist ein lähmendes Gefühl, der Verlust von Sicherheiten, vielleicht sogar von Liebgewonnenem, ganz sicher aber von Notwendigkeiten. Die Furcht vor dem Absacken des gesellschaftlichen und sozialen Status. Die Scham vor jenem Moment, in dem man seiner Frau/seinem Mann, seinen Kindern, seinen Freunden und Verwandten und sich selbst in die Augen sehen muss. Schließlich ist es nicht nur Bürde, Pflicht oder Zwang, nicht bloßes Einfügen ins System, es ist auch und nicht zuletzt ein menschliches Grundbedürfnis zu Schaffen, zu Leisten, zu Wollen und, ja, zu Arbeiten. Das dies in den heutigen Zeiten der Weltwirtschaftskrise und einer allgemeinen und fortschreitenden Entmenschlichung am Arbeitsplatz immer mehr an das oben beschriebene Gefühl, bzw. dessen allgegenwärtige Bedrohung und weniger an die Befriedigung dieses Bedürfnisses gekoppelt ist, davor kann man nicht nur als unmittelbar Betroffener die Augen nicht verschließen. Mit geöffneten und zudem höchst wachen Augen geht es auch Regisseur Jason Reitman bei seiner filmischen Adaption des Romans „Up in the Air“ (dt. Titel: „Mr. Bingham sammelt Meilen“) an und zeigt dabei nicht nur das großartig ausgearbeitete Portrait eines Menschen, der von Beruf Kündigungen überbringt, sondern er gibt auch diesem lähmenden Gefühl viele, berührende Gesichter.
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Dass Reitman dabei jedes bißchen falscher Sentimentalität, aber auch jeden Moment des bloßen Vorführens von Schicksalen vermeidet ist eine der Stärken von „Up in the Air“. Viele Augenblicke, in denen Mitarbeitern verschiedensten Standes, verschiedenster Herkunft, aber gleichen Schicksals die Nachricht ihrer Kündigung, ihrer Freistellung ereilt, montiert Reitman immer wieder aneinander, zusammengeschnitten aus Interviews und Statements, die während des Drehs in St. Louis und Detroit mit Leuten entstanden, die tatsächlich vor kurzem ihre Jobs verloren hatten. Dies nutzt Reitman nicht allein als eine Art Authentizitätszertifikat, sondern kontrastiert mit der ungekünstelten Echtheit dieser Szenen auch die Welt seines Antihelden Ryan Bingham, der ohne ein Zuhause, ohne Bindungen 322 Tage im Jahr auf Reisen ist, in Flugzeugen, Mietwägen, an Hotelbars und auf –zimmern durch sein eigenes Paralleluniversum wandelt. Als er bei einem Drink die Vielfliegerin (und damit Gleichgesinnte) Alex kennenlernt ist das auf den ersten Blick kaum eine romantische Begegnung. Denn die beiden umschmeicheln einander nicht mit Komplimenten, anhand von Business- und Vergütungs-Cards und der Anzahl ihrer im Jahr zurückgelegten Flugmeilen legen sie einander ihren Status vor – und erreichen damit mehr beim anderen, als mit schönen Worten und anziehenden Blicken.
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George Clooney ist als Ryan Bingham im schicken Anzug unterwegs und hätte vom Outfit her auch locker in einen weiteren Teil der „Ocean’s“-Reihe gepasst, beutet dort Casinos und hier Arbeitsplätze aus, ansonsten sind Clooney und sein Bingham aber weit entfernt vom vergleichsweise seichten Gentlemangauner Danny Ocean. In „Up in the Air“ ist ein Mann über den Wolken unterwegs, der sich ein unangreifbares Refugium geschaffen hat und mit sich und dem Glauben, es nicht und für niemanden jemals verlassen zu müssen, im Reinen ist, obwohl seine Aufgabe darin besteht, tagtäglich mehrere Menschen aus ihren Refugien herauszureißen. Bingham ist ein Mann, dessen Lebenstraum, das Erreichen der Zehn-Millionen-Bonusmeilen, auf dem Zerstören der Lebensträume anderer aufbaut. Dies macht er und macht ihn aber keineswegs unsympathisch, denn den scheinbaren Moment der Ausweglosigkeit versucht er stets als Möglichkeit auf dem Rückweg zu sich selbst und seinen Wünschen zu verkaufen. Welche andere Identität, als eine gänzlich unabhängige, anonyme, beinahe isolierte hätte ein solcher Mensch annehmen sollen, um vor sich selbst zu bestehen, welches andere Ziel, als eine lebenslängliche Premiummitgliedschaft und seinen Namen auf ein Flugzeug gedruckt zu lesen sollte sich so ein Mann setzen?
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In seinem Motivationsseminar unter dem Motto "What's In Your Backpack?" empfiehlt Ryan seinen Zuhörern nicht nur, sich von ihrem Besitz loszusagen, sondern sich auch vom Ballast der menschlichen Bindungen zu befreien. Daran ändert zunächst auch die Begegnung und die gemeinsam verbrachte Nacht mit Alex, wunderbar reich gespielt von Vera Farmiga, nichts. Einschneidender ist da schon die Konfrontation mit der eifrig-ambitionierten Cornell-Absolventin Natalie, die Ryans Chef ihr kostenreduzierendes Konzept schmackhaft macht, mit dem die Kündigungsexperten von der Zentrale in Omaha aus via Bildschirm und Internetverbindung ihrer Arbeit nachgehen könnten. Zwar gelingt es Ryan zunächst, Natalie als allzu praxisfremd zu entlarven, doch dafür bekommt er sie für seine nächsten Reisen aufgedrückt, um ihr Erfahrungen am Mann und an der Frau zu vermitteln. Ryans Weg zu gewissen (Selbst-)Erkenntnissen führt also zunächst nicht über seine Gefühlswelt, nicht über den plötzlichen Bedarf nach Nähe, alles beginnt für ihn mit dem Bangen um die Verwirklichung seines Lebenstraums.
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Wie Ryan Bingham schließlich in seiner anfangs flüchtigen Beziehung zur bezaubernden Alex aufgeht, wie er lernt, dass man die besten Momente im Leben, jene, an die es sich wirklich zu erinnern lohnt, nicht alleine, sondern gemeinsam verbringt, das zeigt Jason Reitman auf eine Art beschwingter Unverbrauchtheit, die seinen Film jedes trügerische Rollfeld aus Kitsch und Klischees selbstbewusst passieren lässt und er stattdessen fast ausschließlich und zielsicher auf unbenutzten Bahnen zur sicheren Landung ansetzt. Die Ernsthaftigkeit der stark an moderne Zeitphänomene geknüpften Themen wandelt Reitman weder zur storybegleitenden Plattitüde ab, noch inszeniert er sie in moralisch bedrückender Schwere, sein Umgang ist vor allem mit einem einfachen und doch alles sagenden Wort zu beschreiben: menschlich. Neben den sehr treffend und keinesfalls überstrapazierten Einsätzen realer Personen erreicht Reitman dies auch mit seinem erweiterten Darstellerensemble, in dem zum Beispiel „The Hangover“-Freak Zach Galifianakis und besonders der großartige J.K. Simmons mit kleinen, aber berührenden Szenen glänzen.
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Zwischen seinen Flügelenden aus Humor und Tragik hält Reitmans „Up in the Air“ eine sichere und jederzeit auf hohem Niveau unterhaltende Balance, bei der nichts angesprochen wird, das am Ende zu kurz käme. Reitman, der die Charaktere mit den passenden Schauspielern im Hinterkopf anlegte und der sich nach seinen Erfolgen mit „Thank you for Smoking“ (2006) und dem Indie-Hit „Juno“ (2007) mittlerweile auch darauf verlassen kann, diese engagieren zu können, hat mit George Clooney, Vera Farmiga und der unterkieferreckenden Anna Kendrick genau richtig gelegen. Denn gerade diesem Trio ist es zu verdanken, dass „Up in the Air“ annähernd jedes bißchen Qualität, das in Buch, der Story und den Dialogen steckt, ausschöpfen kann. Natürlich spielt Clooney mit dem ihm eigenen Übermaß an Charme, gräbt allerdings mannigfaltige Nuancen darunter hervor und macht aus der scheinbaren Läuterung eines sozial Desorientierten den Weg eines Mannes aus sich selbst heraus – und ein Stück wieder zurück, als er schmerzhaft erkennen muss, dass das Einschlagen der ersten Richtung den Rückweg und alle anderen Richtungen nahezu blockiert hat. Auf oberflächlichster Ebene gefällt Farmiga mit einer atemberaubenden Nacktszene, doch auch sie kann der Bingham anfangs so ähnlichen Geschäftsfrau im Fortlauf der Handlung vieles abgewinnen und wirkt in ihrer Zuneigung zu Ryan, in dem Schritt, den sie in sein Leben tut, ebenso glaubhaft, wie in dem Sprint, in dem sie es wieder verlässt. Kendrick, in den „Twilight“-Filmen noch im Schatten glitzernder Vampire und notleidender Lippenkauerinnen verheizt, beweist ihr Talent vollends in „Up in the Air“, liefert sich einige herrlich freche Wortgefechte mit Clooney und überzeugt in den Szenen, in denen sie mit den Reaktionen der Gefeuerten konfrontiert wird. „Two and a half Men“-Stalkerin Melanie Lynskey und Amy Morton als Ryans Schwestern sorgen bei der Familienzusammenführung für nie schablonenhaft wirkende Rührung und Sam Elliott als ältester Haudegen unter den Flugkapitänen führt einen der großartigsten Dialoge des Films mit Clooney. Jason Bateman hat man mittlerweile zwar grundsätzlich einmal zu oft als Managertyp gesehen, seine gute, wenig auffällige Leistung schmälert dies jedoch nicht zwingend.
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Bei Reitmans vorangegangenen Werken konnte man noch Haare in der Suppe finden („Thank you for Smoking“: in letzter Konsequenz nicht bissig genug; „Juno“: ein bißchen zu gekünstelt auf cool gemacht), bei „Up in the Air“ kann man höchstens noch Schuppen finden. Ein ganz klein wenig geht dem Film im letzten Drittel, nachdem Ryan und Natalie endgültig in die Zentrale zurückbeordert werden und Ryan zur Hochzeit seiner Schwester aufbricht, der Schwung verloren. Dafür wird die Charakterzeichnung noch einmal vertieft und die Story mündet in einem durchaus überraschenden, klassischen HappyEnd-Regeln die Kündigung aussprechenden Schluss, der nahe geht und dabei doch absolut konsequent ist. „Up in the Air“ ist ein zynisch-humorvoller, liebevoll-weiser Film, das bislang beste und dichteste Werk Jason Reitmans, dem das großartige Talent gegeben ist, einerseits wolkenleicht zu inszenieren, andererseits von einer tiefgehenden Lebensschwere zu erzählen, ohne das eine vom anderen auszuschließen. Er bettet Kälte in Wärme, ohne dabei vorzugaukeln, das das Wohlige nicht jederzeit wieder von innen durchdrungen werden kann, was aus sehr individuellen Charakteren sehr universelle Botschaftsträger und aus „Up in the Air“ einen wunderbaren Film macht.
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Komplette Review siehe: http://christiansfoyer.wordpress.com/2010/02/02/review-up-in-the-air/