Mit seinem Spielfilmerstling Wer früher stirbt, ist länger tot gelang Marcus H. Rosenmüller ein unerwarteter Erfolg. Schnell wurde der gebürtige Tegernseer zum Hoffnungsträger des deutschen Films stilisiert, Auszeichnungen folgten und die bayerische Prägung seines Werks wurde zum Anlass genommen, über einen „neuen Heimatfilm“ zu sinnieren. Nur zwei Jahre später folgt nun bereits Rosenmüllers fünfter Film. Mit dem erzählerisch unentschiedenen Gesetzlosen-Drama „Räuber Kneißl“ widmet sich der Regisseur nach Beste Zeit und Beste Gegend, den beiden ersten Teilen seiner entschieden gegenwärtigen Coming-of-Age-Trilogie, die demnächst mit „Beste Chance“ komplettiert werden soll, nun einem historischen Stoff. Aber der bajuwarischen Heimat und Sprache bleibt Rosenmüller treu, denn die Geschichte des Diebs und Wilderers Mathias Kneißl, der um 1900 herum im Dachauer Land sein Unwesen trieb, gehört in Bayern zum volkstümlichen Erbe.
1892: Pfarrer Endl (Andreas Giebel) und Gendarm Förtsch (Thomas Schmauser, Schnauze voll) haben die Familie Kneißl auf dem Kieker. Der Vater und seine halbwüchsigen Söhne gehen regelmäßig wildern, die Buben Mathias (Maximilian Brückner, Selbstgespräche, Allein) und Alois (Florian Brückner) schwänzen zudem die Sonntagsschule. Als sie schließlich mit Unterstützung ihrer Mutter (Maria Furtwängler, „Tatort“-Kommissarin Lindholm) die Kirche ausrauben, kommt es zu einer wilden Verfolgungsjagd. Die Familie wird auseinander gerissen, bald findet sich ein Großteil der Mitglieder im Gefängnis wieder. Als Mathias endlich aus der Haft entlassen wird, will er ein ehrliches Leben beginnen. Er verliebt sich in seine Cousine Mathilde (Brigitte Hobmeier, Nichts als Gespenster, Winterreise) und träumt davon, mit ihr nach Amerika auszuwandern. Aber die Provokationen des missgünstigen Polizisten Förtsch drohen, den jungen Mann von seinem gesetzestreuen Weg abzubringen…
Um die historische Figur des Mathias Kneißl rankten sich bereits zu dessen Lebzeiten Legenden, sein Katz- und Mausspiel mit der Polizei machte aus dem gewöhnlichen Verbrecher allmählich eine Art Volksheld. Vor allem nach seiner Hinrichtung durch die Guillotine im Jahr 1902 wurde aus Kneißl eine Symbolfigur des Widerstands gegen die Obrigkeit in einer autoritär regierten Gesellschaft. Gerne wurde und wird der Wilderer - ohne dass die historische Faktenlage dies wirklich hergeben würde - zu einer Art bayerischen Robin Hood stilisiert. Auch in „Mathias Kneißl“, der 1970 unter der Regie von Reinhard Hauff (Stammheim) entstandenen ersten Verfilmung des Stoffes, wurde das sozialrevolutionäre Element betont. Rosenmüller interessiert sich dagegen weniger für die Hintergründe und Zusammenhänge. Die Not der Landbevölkerung und insbesondere die Armut der Familie Kneißl bleiben bei ihm unterbelichtet, mithin fehlt seiner Geschichte der Antrieb und seinen Figuren die Motivation. Einzelne Einfälle und sorgfältig komponierte Bilder sind für den Regisseur wichtiger als eine einheitliche Erzählhaltung. So sind viele Szenen reizvoll umgesetzt, aber die interpretatorische Durchdringung des Stoffes lässt entschieden zu wünschen übrig.
„Räuber Kneißl“ ist trotz bayerischer Mundart und halbwegs authentischer Schauplätze (für viele Aufnahmen musste ins unberührtere benachbarte Tschechien ausgewichen werden) weniger ein deutscher Heimatfilm als ein Spätwestern mit regionalem Einschlag. Das Bordell wirkt eher wie ein Saloon und wenn übers Feld geradelt wird, dann ist der Gedanke an die Zwei Banditen Butch Cassidy und Sundance Kid nicht weit. Besonders der Einfluss von Sam Peckinpahs Westernballade Pat Garrett jagt Billy The Kid ist immer wieder spürbar. Allerdings ist die Obsession des Ordnungshüters, die der Franke Thomas Schmauser durchaus originell darstellt, bei Rosenmüller kaum nachvollziehbar. Die Amerikasehnsucht des Protagonisten spiegelt sich im Stil des Regisseurs, der sich aus dessen eigener Filmbegeisterung speist. Kompetent-rasant inszenierte Action und einzelne gelungene Spannungssequenzen stehen einer überzogenen Parallelmontage eines Folterverhörs mit einer Sterbeszene sowie einer effekthascherischen Überfrachtung bei der Kunde vom endgültigen Todesurteil gegenüber. Ein Heimatgefühl vermittelt sich hier weder ästhetisch noch emotional. Selbst die Liebesgeschichte gerät Rosenmüller zum Möchtegern-Bonnie and Clyde, auch wenn er gelegentlich den derb-deftigen Tonfall des bajuwarischen Volkstheaters aufgreift.
„Räuber Kneißl“ ist ein kompetent gemachter Film, kurzweilig und angenehm anzuschauen, aber ohne Herzschlag. Beim wilden Genremix Wer früher stirbt, ist länger tot konnte Rosenmüller die Unausgewogenheit noch weitgehend durch Charme und Originalität wettmachen. Seine aktuelle Räuberpistole ist dagegen bei allen handwerklichen Qualitäten zu unpersönlich geraten. Dem haben auch die Darsteller wenig entgegenzusetzen, die zwar allesamt gute Leistungen zeigen, aber keine Gelegenheit zu tiefgründigen Charakterisierungen erhalten. Maximilian Brückner, der den Kneißl bereits über mehrere Jahre am Münchener Volkstheater gespielt hat, interpretiert die Titelrolle geradezu sachlich und ohne jedes überhöhende Element. Der Räuber ist hier weder Held noch Anti-Held, aber leider auch keine Persönlichkeit. So bleibt der ganze Film ohne Zentrum und ohne wirkliches Thema.