Die Goldene Himbeere an ein und demselben Wochenende lächelnd, charmant entgegenzunehmen, wie kurz danach den heißbegehrten Goldjungen ist nicht bloß eine Seltenheit, sondern hat sich in der Geschichte des Films noch nie zuvor ereignet. Und es geht noch weiter: Noch nie konnte ein Film mit weiblichen Hauptprotagonisten solche Einnahmen verbuchen. Rekord! Besagte Millionen (277,4 Mio.) sind hauptsächlich auf Sandra Bullocks Konto zurückzuführen. „Blind Side“ ist Bullocks Film, weniger der des Regisseurs und Drehbuchautors John Lee Hancock. Sie ist die offensichtliche Dominante und Kopfnote zugleich und versteht mit natürlichem Schauspiel auf charmante und würdevolle Art und Weise die Zuschauer für ihre (Blind) Side zu gewinnen.
Leigh Anne Tuohy, so der Name ihrer bisher anspruchsvollsten Figur, ist resolut, genau und manchmal übermutig bis gar unverschämt. Die in Arlington, Virginia geborene Bullock versteht diese emanzipierte Haus- und Business-Lady eindrucksvoll ehrlich und keineswegs dramaturgisch überzogen ein zugängliches Gesicht zu verleihen und stellt zum ersten Mal seit langem in ihrer bisher unterdurchschnittlichen Filmkarriere die ganze Bandbreite ihres Könnens mit höchst imponierender Leichtfüßigkeit dar. Doch kommt auch die an sich und ihre Motive zweifelnde Mrs. Tuohy in Hancocks Drama nicht zu kurz, sodass „Miss Undercover“ aus genügend Freiraum zur Kehrseite einer wahren Persönlichkeit schöpfen kann und diese ihr zur Verfügung gestellten Komponenten des Drehbuchs in die Leistung ihres Lebens ummünzen kann. Sie ist ohne Zweifel, vollkommen zu Recht das Gesicht des Films. Ob dieser Verdienst jedoch auch tatsächlich als Berechtigung zu werten ist, neben Jeff Bridges, Mo´Nique und Christoph Waltz strahlend auf dem Oscar-Gewinnertreppchen zu posieren, wage ich anzuzweifeln. Im knallharten Vergleich ist sie der Schiffskoch auf dem Siegerschiff, im nahezu lächerlichen Vergleich mit den Gewinnerinnen der vergangenen zehn Jahren darf sie vielleicht den Anker setzen, hat jedoch weder einen Freischein für das Betreten des Hecks, noch dürfte sie ansatzweise das Steuer in die Hand nehmen, so wie sie es als Leigh Anne im Familiengeschehen kontrolliert. Dieses setzt sich aus dem sportbegeisterten Vater, dem sportbegeisterten Jungen und der sportbegeisterten älteren Tochter zu einem spießigen Vergnügen der High Society zusammen und ermöglicht gleich zu Anfang das Schlachtfeld der Klischeebomben. Geradezu ein Feuerwerk eindimensionaler Charaktere und Verhaltensmuster einer spezifischen Gesellschaftsschicht ereignen sich vor den Augen des Zuschauers, welcher schnell realisieren wird, dass sein Gehirn auch auf Stand-by den Film genießen kann – eigentlich muss er dies sogar, ansonsten kann es wehtun. Der krasse Gegenentwurf zu dem konservativen, nach perfekten Biografien ablaufenden Geschehen der Familie Tuohy, wirkt in Hancocks Darstellung wie eine Parallelwelt und doch eine vom anderen Stern. Das Viertel der bösen, schwarzen Gangster-Jungs ist all das, was im Hause Tuohy nicht das Alltagsgeschehen illustriert und ebenso all das, was wir bereits unzählige Male im Kinosessel sehen und ertragen mussten, sodass der Durchschnitts-Kinogänger mittlerweile die banalen Bilder verinnerlicht hat und Hancocks Zeichnung nur wie ein Abzug dieser wirkt. Es ist nicht einmal positiv festzumachen, dass der Regisseur den beiden „Welten“ wenigstens gleichberechtigt in das offene Klischee-Messer laufen lässt. Denn wenn wir Einblicke in zweier Dialoge zwischen Anne Leigh und ihrer Gucci- und Handcreme-Busenfreundinnen am Tisch eines noblen Restaurants gewährt bekommen, wird nur so mit typischen Charakterbildern gekleckert, dass es keine Freude mehr macht und wir uns freiwillig auf die Seite der Hip-Hop-Homies stellen. Die überhastete, um unnötiges Tempo bemühte Abfolge der Ereignisse tuen der Darstellung im Rahmen des Realismus nicht sonderlich gut. Wie zügig und selbstlos ein konservativer Charakterkopf wie Anne Leigh mir nichts dir nichts den farbigen Jungen von der Straße sammelt und bei sich aufnimmt ist schier lächerlich unstimmig. Zwar kann sich Hancock hinter der Tatsache verstecken, dass seine Geschichte auf wahre Begebenheiten beruht. Doch ist es nicht die eigentliche Frage wie man das Wahre schildert? Mit welchem Fingerspitzengefühl, mit welchem Verständnis für die Charaktere, um diese auch in einem harmonierenden Gleichgewicht interagieren lassen zu können? Denn wie Anne Leigh betont, es sind nicht ihre Schritte und Taten, die das Leben des Jungen verändern, sondern es sind seine, welche die Frau doch erst interessant machen. Alles was wir an ihr schätzen, ihren unerschütterlichen Mut, die Konsequenz in ihren Ambitionen und Zielverfolgungen, sind Resultate, Inspirationen aus Michaels Schicksal. Und hier begeht John Lee Hancock sein schwerstes Vergehen. Er macht aus dem eigentlichen Subjekt Michael lediglich ein Objekt. Dessen bedrückende und leider allzu aus dem wahren Leben gegriffene Kindheitsgeschichte dient ausschließlich als Frontalangriff auf die Tränendrüse – und das eher verhalten. Genau genommen dürfte vielen Zuschauer die Tragik des Jungen ein Stück weit kalt lassen. Dafür lernen wir viel zu wenig von der traurigen Persönlichkeit kennen, was wir ohnehin nicht schon erahnen oder aus Filmen ähnlicher Thematik meisterhafter und qualitätsreicher dargeboten bekommen haben. Der Effekt der Überraschung und bewusster Verstörung ist hier nicht etwa verspielt, sondern schlicht nicht vorhanden. Der Verantwortliche des Films mutet uns lediglich zwei, drei Gedächtnisfetzen zu, welche sich in Michaels Kopf abspielen und uns Teil des Moments werden lassen, als er durch Eingreifen des Jugendamts von seiner überforderten Crack-Mutter getrennt werden muss. Wie beiläufig wird dann noch erwähnt, dass er im Laufe der verbliebenden Jahre in zahlreichen Pflegefamilien ein „Zuhause“ gefunden hat. Alles andere muss sich der Zuschauer selbst zusammenreimen oder einfach sein eigenes „tragisches Konzept“ basteln und sich daran erschöpfen.
Auch die eigentlich soliden Nebendarsteller können das Fass nicht weiter vor dem Überlaufen retten und tauchen irgendwann in dieses ein. Einzig und allein nicht ersoffen: Adriane Lenox. In ihrem kurzen Auftritt als Mutter des Riesen Michael „Big Mike“ Oher versteht sie es mit ehrlicher, pointierter Mimik und Eleganz als Einzige Bullock das Wasser zu reichen. Selbst eine sonst souveräne Kathy Bates bietet nur Durschnittsware an. Tim McGraw als stummer, liebenswürdiger und schüchterner Hüne Michael, nimmt rein physisch die Leinwand voll und ganz für sich ein und auf dem Footballfeld glänzt er mit ästhetischer Präsenz und Körpersprache. Das ist weder die Leistung eines Laiendarstellers, noch ist er im Stande das für uns glaubwürdige Gewand des versagenden, aus schlechten Familienverhältnissen und doch lebensmutigen und ambitionierten Sportlers und Bruders in jeder Minute, zwei Stunden, tragen zu können. So verwundert es nicht, dass die Zuschauer für jede Minute einer Einstellung mit Sandra Bullock im Bilde dankbar sind und sich voll und ganz auf ihre Geschichte einlassen können und wollen.
Das Ganze ist für ein Drama über Familie, Integration, Rassismus und Zwei-Klassengesellschaft zu harmlos, zu kritiklos, zu unpolitisch, zu einfach, zu banal. An der Oberfläche zu schwimmen, verdient nicht einmal das Seepferdchen und allein Bullock darf sich das Silberne Abzeichen auf die Schwimmhose nähen. Ansonsten bleibt Hancocks Film weit hinter den hohen Erwartungen zurück. Dass sich zu allem Überfluss der Film mit dem Prädikat „Oscar-nominiert“ für den besten Film 2010 schmücken darf, raubt dem Zuschauer bei Verlassen des Kinos das letzte Quäntchen realistischen Glaubens.
Und auch die Botschaft des Films, mit Glaube, Zusammenhalt und den Werten der Familie ist alles im Leben zu schaffen, besteht länger als Hollywood und ist zudem anmaßend kitschig und pathetisch im Filmstoff des 21. Jahrhunderts verpackt.