"Shutter Island" von Altmeister Martin Scorsese sollte eines der großen Kinoereignisse des Jahres 2010 werden. Die Meinungen mögen sich darüber spalten, ob es das geworden ist, ich jedenfalls fand den Film großartig. Der Film fesselt ab der ersten Minute, mit düsterer Musik, hervorragender Kamera-Arbeit und natürlich ausgezeichneten Darstellern - Leonardo DiCaprio liefert hier wieder einmal eine grandiose Show ab, es ist beachtlich, wie er sich im Verlauf der letzten Jahre vom Titanic-Milchbubi zu einem der vielseitigsten Charakterdarsteller seiner Generation entwickelt hat. Doch auch die Nebenrollen überzeugen, allen voran Ben Kingsley als zwielichtiger Anstaltsleiter, aber auch Michelle Williams, Mark Ruffalo, Max von Sydow und Ted Levine blühen in ihren Rollen förmlich auf. Naturgemäß ist der Film sehr auf DiCaprios Figur ausgerichtet, überzeugt aber mit einer Vielzahl an beeindruckenden Darstellerleistungen.
Inszenatorisch erfindet sich Scorsese nicht neu, so viel ist klar. Das muss er allerdings auch nicht - dazu ist sein Stil nämlich schon viel zu ausgereift. Der Film bewegt sich stets auf dem schmalen Grat zwischen Wirklichkeit und Wahnsinn, in fesselnde Bilder gesetzt und mit diversen Rückblenden versehen, die allerdings - so viel Kritik muss man auch eingestehen - teilweise mit Symbolik überladen und zu sehr in die Länge gestreckt wirken. Gleich zwei Flashbackebenen nebeneinander, auch wenn sie miteinander verknüpft sind (Einsatz in Dachau, Verlust der Frau) stören zum Teil den Fluss des Filmes ein ganz klein wenig und hätten kürzer gefasst ebensoviel Aussagekraft besessen, aber sei's drum: den Eindruck eines sehr guten Films kann dieses kleine Detail nicht trüben.
Manch ein Kritiker bemängelt, dass dem Film die Seele fehlt. Diese Kritik kann ich allerdings überhaupt nicht nachvollziehen. Shutter Island wartet mit einer Vielzahl von Emotionen auf, der Spagat, eine extrahierte Figur wie Marshal Teddy Daniels zum Identifikationsträger zu machen, ist zweifelsohne gelungen, was maßgeblich an dem wohl durchdachten Schauspiel DiCaprios liegt. Scorsese ist es vor allem gelungen, eine stimmige und fesselnde Atmosphäre zu schaffen, die den ganzen Film über Bestand hat. Die abgeschottete Insel, hermetisch abgeriegelt, der peitschende Sturm, die spröde See, ein alter Leuchtturm sowie eine Burgruine voller geistesgestörter Insassen... das alles sind Komponenten, die dafür sorgen, dass echte Spannung entsteht und der Zuschauer bei der Sache bleibt. Das ist natürlich auch ein Verdienst des stark umgewandelten Drehbuchs, aber hauptsächlich Scorseses inszenatorischem Geschick zu verdanken.
Über das Ende muss gar nicht groß diskutiert werden - es wirft alles über den Haufen, und das ist gerade das Schöne dabei. Die Qualität des Films bezieht sich aus dem ständigen Katz- und Mausspiel, aufgebrachten und wieder verworfenen Lösungsansätzen, und es ist eine Menge Puzzlearbeit nötig, um das dargelegte Geflecht aus Verdächtigungen und Betrug zu entheddern. Die Erwartungen des Zuschauers werden in einzelne Richtungen gelängt, doch ehe ein Puzzlestück an ein anderes zu passen scheint, wird alles wieder durcheinandergewirbelt. Aufmerksame Kinobeobachter mögen Lösungen einzelner Storyelemente durchaus entschlüsseln können, doch im Allgemeinen hat Scorsese die nicht gerade revolutionäre, aber dafür atmosphärisch dichte Buchvorlage von Dennis Lehane authentisch und verwirrend umgesetzt. Auch Kenner des Buches werden folglich auf ihren Geschmack kommen.
Fazit: Unter dem Strich ist Scorsese ein düsterer, spannungsgeladener Psycho-Thriller gelungen, der durch seine wendungsreiche Geschichte, brillante Darsteller und ganz besonders einer geradezu hypnotischen Atmosphäre besticht. Sehr zu empfehlen!