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    The Wolf Of Wall Street
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    The Wolf Of Wall Street
    Von Björn Becher

    Im Rahmen der Promotiontour zu „The Wolf Of Wall Street“ verriet Meisterregisseur Martin Scorsese, dass sein Karriereende in Sicht sei. Ein paar Filme habe er noch im Köcher, dann sei für ihn wohl Schluss. Da der Oscarpreisträger (für „Departed: Unter Feinden“) inzwischen immerhin schon über 70 ist, überrascht eine solche Aussage kaum. Aber andererseits kann man sich einen Martin Scorsese, der schon ganz unterschiedlichen Genres seinen Stempel aufgedrückt und sich überdies mit Erfolg an Dokumentationen, Musikvideos („Bad“ von Michael Jackson) sowie seit 2010 auch an einer TV-Serie („Boardwalk Empire“) versucht hat, kaum als Rentner vorstellen, denn sein Werk ist nach wie vor unglaublich vital und voller künstlerischer Entdeckungsfreude – auf einem Niveau, das die meisten jüngeren Kollegen erst gar nicht erreichen. Das gilt insbesondere für den neuesten Film Scorseses: Bei der virtuos-aufgekratzten Satire „The Wolf Of Wall Street“ zeigt er sich von seiner energiegeladenen Seite, präsentiert uns eine Art Börsen-„Goodfellas“ auf Koks und kommt dabei nahe an die Klasse seines Meisterwerks heran. Das bissige Porträt eines schillernden Finanzjongleurs ist zugleich auch die vorläufige Krönung von Scorseses langjähriger Zusammenarbeit mit Hauptdarsteller Leonardo DiCaprio. Und wie der Regisseur dabei die Regeln des klassischen Biopics unterläuft, sich hemmungsloser satirischer Überzeichnung hingibt, aber auch Dramatik und Spannung zu ihrem Recht kommen lässt - das ist ganz großes Kino.

    Anfang der Neunziger ist der 26-jährige Börsenmakler Jordan Belfort (Leonardo DiCaprio) obenauf. Mit der von ihm gegründeten Firma Stratton Oakmont verdiente er zuletzt 49 Millionen Dollar im Jahr, seine zweite Frau Naomi (Margot Robbie) ist eine heiße Sexbombe, eine Party jagt die nächste und seine Mitarbeiter vergöttern ihn. Als er vier Jahre davor frisch an die Wall Street gekommen war, sah das noch ganz anders aus – obwohl er in dem erfahrenen Broker Mark Hanna (Matthew McConaughey) schnell einen Mentor findet, der ihn nicht nur in das ausschweifende Leben mit Drogen und Prostituierten einführt, sondern ihm auch zeigt, wie durch geschickte Geschäfte möglichst viel Geld in der eigenen Tasche landet. Doch dann kommt der 19. Oktober 1987, der Schwarze Montag, der größte Börsenkrach nach dem Zweiten Weltkrieg: Nach der Pleite seiner Firma muss Belfort sehen, wie er mit seiner Frau Teresa (Cristin Milioti) über die Runden kommt. Er verscherbelt in einer Klitsche Billig-Aktien an Hausfrauen, Rentner und Lehrer und erkennt bald, dass man in diesem kaum überwachten Handelssegment richtig viel Geld machen kann. Gemeinsam mit dem Jungspund Donnie Azoff (Jonah Hill) und einigen halbseidenen Bekannten macht er sich selbstständig und startet seinen rasanten Aufstieg: Die Millionen fließen, das Leben wird zur einzigen Party, der Verschleiß von Drogen und Prostituierten steigt ins Unermessliche. Doch längst hat FBI-Agent Patrick Denham (Kyle Chandler) ein Auge auf Belforts Treiben geworfen…

    In „The Wolf Of Wall Street“ ist alles eine Frage der Wahrnehmung, schon die allererste Sequenz offenbart die Diskrepanz zwischen (Selbst-)Darstellung und Wirklichkeit. Nach einem Hochglanz-Werbespot für Stratton Oakmont, einem scheinbar äußert seriösen Unternehmen, zeigt uns Scorsese, wie es in der Firma wirklich zugeht: Junge Männer, denen man sein Geld ganz sicher nicht anvertrauen würde, werfen zu ihrer Belustigung Kleinwüchsige quer durchs Büro. Die Börsianer erscheinen als Gaukler und Glücksritter - und Jordan Belfort ist der schillerndste unter ihnen. Seinen leichtgläubigen Kunden verkauft er letztlich Träume von einem besseren Leben, anders als heute in Zeiten der andauernden Finanz- und Bankenkrise wurde charismatischen Brokern wie ihm zu Beginn der 90er noch blind vertraut und das wusste er zu nutzen. Das verdeutlichen Scorsese und sein Drehbuchautor Terence Winter („Die Sopranos“) mit einem brillanten Kniff: Sie nehmen vorwiegend Belforts subjektive Perspektive ein und machen das Publikum damit zum Komplizen und zum Opfer des Maklers zugleich. DiCaprios Protagonist kommentiert das Geschehen nicht nur aus dem Off, sondern wendet sich von der Leinwand direkt an den Zuschauer und flüstert diesem auch mal verschwörerisch etwas zu. Als er im Bild im roten Ferrari die Straße entlangrast, greift er sogar korrigierend ein und protestiert, dass das Auto aber weiß gewesen sei, worauf sich die Farbe umgehend ändert. Auf elegante Weise wird auf das Fabrizierte der Erzählung hingewiesen, auf die subjektive Färbung: Diesem Mann ist nicht zu trauen – und Scorseses Bildern auch nicht.

    Durch die bewusst einseitige Erzählweise (als Hauptquellen dienten Belforts Autobiografie sowie persönliche Gespräche Winters mit dem heutigen Motivationstrainer) provoziert Scorsese gekonnt eine Irritation. Wenn der Protagonist etwa den kleinen Vorstadt-Börsenhandel betritt (mit unter anderem „Her“-Regisseur Spike Jonze als abgehalftertem Billig-Broker) ist das wie so viele Szenen so gnadenlos komisch überzeichnet, dass man sich unweigerlich fragt, ob „Erzähler“ Belfort hier nicht übertreibt. Selbst die Momente, in denen er gar nicht dabei ist, sind von seiner Sichtweise geprägt: Der in seinem Büro über Statistiken grübelnde FBI-Agent Denham wie ihn uns Scorsese zwischendurch immer wieder zeigt, dürfte ziemlich genau Belforts spöttischer Vorstellung von der Arbeit des überkorrekten Pedanten entsprechen. Der Kontrast zwischen dem Regierungsbeamten im abgetragenen Anzug mit seinen langweiligen Diagrammen und dem von aufregenden Frauen umringten Belfort im teuren Zwirn ist jedenfalls kein zufälliger. Und so verwundert es nicht, wenn auch das Publikum dem Charme des verführerischen Protagonisten erliegt, obwohl er unübersehbar ein riesengroßes, dauernd zugedröhntes Arschloch ist. Diese faszinierende Ausstrahlung nutzt der reale Belfort (der sich in einem Cameo-Auftritt am Ende sozusagen selbst als größten Motivator der Welt ankündigt) bis heute und sie findet durch einen der größten Filmstars dieses Planeten adäquaten Ausdruck.

    Leonardo DiCaprio spielt bei seiner schon fünften Zusammenarbeit mit Martin Scorsese wie entfesselt auf: Als sein Jordan Belfort zum Auftakt Kokain aus dem Hintern einer Prostituierten zieht, wird gleich die Richtung vorgegeben. Der Broker war nach eigenem Bekenntnis damals eigentlich immer high und nun führt uns DiCaprio entsprechend durch die diversen Stufen des Drogenmissbrauchs - vom euphorisierten König der Welt, der sich wie ein Messias feiern lässt, bis zum totalen Wrack, das unkontrolliert sabbernd eine Treppe hinunterrobbt. Der gewohnt charismatische DiCaprio lässt uns in die Seele eines Seelenverkäufers blicken und führt damit einen beeindruckenden Cast an, in dem selbst kleinste Rollen spektakulär besetzt sind. Zwischen Stars wie Matthew McConaughey („Magic Mike“) und Jean Dujardin („The Artist“) sticht vor allem Neuentdeckung Margot Robbie („Alles eine Frage der Zeit“) als Naomi heraus. Ihre Figur ist purer Sex, bei ihrem ersten Auftritt kann Belfort kaum noch einen klaren Gedanken fassen und sein Kumpel Donnie beginnt mitten auf der Party vor aller Augen zu onanieren. Aber Naomi ist nicht nur aufregend, sondern auch selbstbewusst und bei Robbie gehen Sex und Schauspielkunst Hand in Hand, wenn sie etwa ihren späteren Mann beim ersten gemeinsamen Date verführt und ihm förmlich den Verstand raubt oder wenn sie nach einem Streit die leicht zu habende, aber dennoch unerreichbare Traumfrau gibt (auch wenn dieser eigentlich grandiose Moment am Ende einem billigen Witz geopfert wird).

    Bei den Golden Globes wurde „The Wolf Of Wall Street“ nicht umsonst in der Kategorie „Beste Komödie“ nominiert. Die treffsichere Satire ist Scorseses lustigster Film seit „Die Zeit nach Mitternacht“ von 1985, wenn nicht seiner ganzen Karriere. Das liegt nicht zuletzt an der Riege ebenso absurder wie brillant verkörperter Nebenfiguren, die zuweilen haarscharf an der Karikatur entlangschrammen. Jonah Hill („21 Jump Street“, „This Is The End“) bietet als Donnie mit seinen übergroßen, überweißen Zähne, der dicken Brille und geschmacklosen Pullovern einen Anblick zum Schießen und die Schilderung seiner Ehe mit seiner Cousine (Mackenzie Meehan) ist einer der komischen Höhepunkte des Films. Daneben gibt es in Jordans Crew unter anderem einen Fitnessfreak (Jon Bernthal), der nie ohne Trainingshose zu sehen ist, einem dauergehänselten Toupet-Träger (P.J. Byrne) und einem Asiaten (Kenneth Choi), der seine Finger nie vom Essen lassen kann. Den Vogel schießt aber Regisseur Rob Reiner („Harry & Sally“) als Jordans Vater und Berater „Mad Max“ ab. In Sekundenschnelle schaltet er zwischen ausufernden Wutausbrüchen und einem vornehm-gesitteten britischen Akzent um. Schon seine Einführung ist wahres Comedy-Gold: Er will gemütlich die Serie „The Equalizer“ schauen, wird vom Telefon unterbrochen und flippt völlig aus… Es läuft dabei übrigens eine Episode mit dem unverwechselbaren Steve Buscemi als Gaststar, dem Hauptdarsteller von „Boardwalk Empire“ – eine der vielen – in der Summe unnötigen - Anspielungen auf die gemeinsame Serie von Regisseur Scorsese und Autor Winter.

    Gemeinsam mit seiner Stamm-Cutterin Thelma Schoonmaker werkelte Martin Scorsese bis zur allerletzten Minute am Schnitt von „The Wolf Of Wall Street“, um den Film noch 2013 veröffentlichen und damit ins Oscarrennen schicken zu können. Angeblich gab es dabei zwei Probleme: zu viel Sex und eine vom Verleih vorgegebene Maximallänge von drei Stunden. Der fertige Film macht allerdings nicht unbedingt den Eindruck, dass Scorsese etwas entschärft hätte – Szenen wie die große Sex-Orgie in einem Flugzeug wären wohl nur im Porno noch expliziter. Dass die Laufzeit am Ende zwei Stunden und 59 Minuten beträgt, dürfte indes kein Zufall sein, aber trotzdem gilt: Auch wenn der ein oder andere Aspekt durchaus noch genauer und ausführlicher hätte ausgestaltet werden können und ein Gaststar wie Jon Favreau („Iron Man“) ein paar Minuten mehr verdienen würde, wirkt „The Wolf Of Wall Street“ ungemein rund. Das ist hier anders als etwa im Fall von „Django Unchained“, bei dem  Quentin Tarantino Ende 2012 ebenfalls bis zur letzten Sekunde im Schneideraum werkelte. Während man dort aber den Eindruck hatte, der Regisseur hätte einiges anders (und besser) gemacht, wenn er noch mehr Zeit gehabt hätte, drängt sich so ein Gedanke bei „The Wolf Of Wall Street“ nie auf: Scorseses an seine Meisterwerke „Goodfellas“ und „Casino“ erinnernde Börsen-Satire ist ein weiteres brillant inszeniertes Highlight in einer unvergleichlichen Karriere.

    Fazit: Martin Scorseses „The Wolf Of Wall Street“ ist eine herausragende Börsen-Satire, die zwar nicht ganz an frühere Meisterwerke wie „Goodfellas“ heranreicht, aber den Regisseur einmal mehr auf der Höhe der Zeit zeigt.

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