Der frühere Reporter der L.A. Times J. Michael Straczynski konnte es kaum glauben, als ihm ein ehemaliger Informant aus dem Rathaus die niedergeschriebenen Berichte des City Council Welfare hearings‘ im Fall Christine Collins vorlegte. Selbst dem Erfinder und Schreiber der SciFi-Serie „Babylon 5“, der außerdem an Zeichentrickserien wie „He-Man“ und „She-Ra“ und der Comicreihe „Amazing Spider-Man“ gearbeitet hatte, schien die Geschichte der Christine Collins fast schon zu unglaublich. Doch der erfahrene Straczynski erkannte natürlich auch das Potenzial für einen dramatischen Kinofilm, recherchierte ein Jahr lang die Hintergründe und machte aus über 6.000 Seiten an Dokumentation ein Drehbuch. In Produzent Brian Grazer fand er einen prominenten Abnehmer, der es gern von (seinem je nach Form Hofzauberer oder Hofnarren) Ron Howard verfilmt gehabt hätte, der den Regieposten aber aus terminlichen Gründen abtreten musste. Statt einer 50zu50 Chance verpflichtete man mit Clint Eastwood glücklicherweise eine 100%-Lösung, denn besonders ist es seine Regie, die aus „Der fremde Sohn“ einen ausgeprägt starken Film macht.
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Los Angeles, 1928: Die alleinerziehende Mutter Christine Collins kommt eines Abends von der Arbeit nach Hause und muss feststellen, dass ihr 9jähriger Sohn Max spurlos verschwunden ist. Öffentlich angeprangert von Reverend Briegleb nimmt der korrupte, inkompetente und Gesetze biegende Polizeiapparat der Stadt die Suche auf und präsentiert Christine nach fünf Monaten einen Jungen, von dem sie absolut sicher ist, dass dies nicht ihr Sohn ist. Captain Jones, mit allen noch so absurden Ausreden und Mitteln den Ruf der Polizei schützend, veranlasst kurz darauf die Einweisung der verzweifelten Mutter in eine psychatrische Heilanstalt. Währenddessen greift Detective Ybarra einen Jungen auf, der ihm ein grauenhaftes Geheimnis offenbart, in das auch Walter Collins verwickelt ist...
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Alles beginnt noch recht beschaulich, sowohl das Leben von Christine und Walter Collins, als auch der Film an sich. Kulissen, Ausstattung und Kostüme erzeugen ein schönes 20er Jahre Ambiente, Eastwoods eigenkomponierte Musik setzt immer wieder sehr sachte und stilgemäß ein. Kurz und präzise sind die einzelnen Szenen, ein bißchen Privatleben, ein bißchen Berufsleben und knappe Dialoge führen hin zu dem nach kurzer Zeit passierenden Moment, in dem die Mutter ihren Sohn verliert. Eastwood gibt seinen Film von da an erst einmal vollständig der Dominanz von Angelina Jolie hin, die sich, ohne dass ihre Christine einem bis dahin sonderlich nahe gekommen wäre, in eine mitreißende Verzweiflung hineinsteigert, die das Schicksal der Frau geradezu erfühlen lässt. Jolie lässt in einige Szenen eine verletztliche Hingabe einfließen, einen berührenden Kummer, was durch Eastwoods ungemein frontale straight forward-Inszenierung noch an Ausdruck gewinnt.
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Der große alte Mann auf dem Regiestuhl geht die Geschichte hart und präzise an, ohne Längen und Brüche zuzulassen, dafür in jeder Sekunde mit geschärftem Auge und Versunkenheit in die wichtigen Details. Wie in seinen größten Meisterwerken „Erbarmungslos“, „Mystic River“ und „Million Dollar Baby“ lässt Eastwood seine Heldin gnadenlos auf die Barrikaden des Antagonismusses prallen, in diesem Fall eine völlig von Recht und Moral losgelöste Polizei. Unfassbar, mit welcher Ignoranz, Herablassung und Dreistigkeit der Mutter begegnet wird, ihr ein fremder Sohn als der eigene verkauft werden soll. Da wird zum Beispiel ein Arzt zu Christine nach Hause geschickt, der ihr den offensichtlichen Größenunterschied der Jungen mit dem Schrumpfen der Wirbelsäule in Stresssituationen erklärt. Da unterstellt der Captain des Bezirks, J. J. Jones, die Mutter wolle sich um ihre Verantwortung stehlen, hätte die Zeit ohne den Jungen so sehr genossen, dass sie ihn nun nicht mehr haben wolle. Nachvollziehbar, warum Straczynski und auch Jolie die Geschichte kaum glauben konnten. Letztlich halten sich weder Straczynskis Buch, noch Eastwoods Regie mit Erklärungsversuchen oder Hinterfragungen auf, sondern schildern den Fall nüchtern, überlassen ihn seiner natürlichen Dramatik und liefern damit ein umso überzeugenderes und erschreckendes Bild eines aus den Fugen geratenen staatlichen Exekutivorgans, wie es das L.A.P.D. anno 1928 war.
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Mit der haltlosen Einweisung in eine psychiatrische Heilanstalt erreichen Jones‘ Mittel, Christine Collins zu diskreditieren, ihren absurden Höhepunkt, erst recht, als sich ein Großteil der Insassinnen als von der Polizei eingewiesen zeigt, einzig um dieser jedwede Unannehmlichkeit zu ersparen. Ein grauenhafter, menschenverachtender Vorgang weit jenseits irgendeiner Zulässigkeit. An diesem Punkt klinkt sich außerdem eine Parallelhandlung in „Der fremde Sohn“ ein. Der Detective Lester Ybarra soll einen vermeintlichen Ausreißer auf einer Ranch in Wineville in Gewahrsam nehmen und nach Kanada überführen. Während es der Psychiatrie-Part nicht ganz schafft, einige Klischeefallen zu umgehen (wie die Mitinsassin, die sich Christine anvertraut, ihr beisteht und später dafür büßen muss), bringt der zweite Handlungsstrang, dessen Bindung an den ersten sich nicht sofort erschließt, in seiner Aufschlüsselung einen packenden und schockierenden Twist mit sich. Der aufgegriffene Junge, Sanford Clark, berichtet Detective Ybarra von den Greueltaten seines Onkels, Gordon Stewart Northcott, der auf der Ranch an die zwanzig Jungen gefangen gehalten und brutal ermordet hat. Anhand eines Fotos identifiziert Clark auch Walter Collins als einen der Jungen. Die Szene, in der Clark sich dem fassungslosen Ybarra offenbart, gehört in ihrer puren Drastik und Intensität zu den stärksten und erschütternsten des Films, verdammt die Maßnahmen des L.A.P.D. in Bezug auf Christine Collins nochmals in aller Deutlichkeit angesichts der grausamen Wahrheit und gibt dem Film, lange bevor dieser zu Ende ist, eine aufwühlende Wendung.
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Die Genre-Elemente, aus denen Eastwood den Film entstehen lässt und die Unmittelbarkeit, mit der er von einem zum anderen, vom Mutter/Kind-Drama zum Psychiatriehorror zum Serienkiller-Thriller zum Justizkrimi wechselt, sind von ihm traumhaft sicher, durch die perfekte Ausstattung und die schauspielerischen Leistungen miteinander vereinheitlicht. „Der fremde Sohn“ verliert dadurch nie an Spannung, bleibt trotz der Schwere seiner Themen kurzweilig, ohne dass damit ein Mangel an Tiefe und Bedeutung einherginge. Angelina Jolies dominierendes Spiel tritt nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie etwas in den Hintergrund und überlässt der Handlung um Kindermörder Northcott den Vortritt, die dem Film mehr als nur eine ergänzende Randnotiz wert ist. Northcott wird hochinteressant und vielschichtig angelegt, mit einer klaren Tendenz zum Wahnsinn, und sieht zwischen sich und Christine eine Verbindung, da er sie beide als von der Polizei fehlbehandelt betrachtet. Wo die Trennung zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse bei Christine und der Polizei klar und teils schon undifferenziert erfolgt, bringt Northcott eine verstörend ambivalente Zwischenschicht in den Film, wozu zudem durch seine Aussagen nie sicher ist, dass er Walter Collins wirklich umgebracht hat und einzig ein Killer vor dem Abgrund zur Verrücktheit Christines Glauben aufrecht hält, ihren Sohn doch noch wiederzufinden. Mit seinem fabulös-verschlagenen Spiel voller Zuckungen, wirrer Blicke, aber auch einer fortwährend durchscheinenden emotionalen Gebrochenheit, skizziert Jason Butler Harner einen Mörder mit abstoßend-faszinierender Ausstrahlung.
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Neben Jolie und Butler Harner sind auch die weiteren Rollen glänzend besetzt und gespielt. John Malkovich gibt seinem Reverend Briegleb eine entschlossene Entschiedenheit im Kampf gegen Korruption und Gewalt, spielt aber mit genügend Zurückhaltung, um nicht zu weit in den Vordergrund zu drängen. Michael Kellys Detective Ybarra ist erstklassig vor allem im Zusammenspiel mit Eddie Alderson, der Sanford Clark spielt und sich neben den sehr guten Jungdarstellern des Films einreiht. Jeffrey Donovan und Colm Feore als Captain J.J. Jones bzw. Polizei Chief James E. Davis versacken zwar ein wenig in den Schatten ihrer schlichten Charakterisierung, geben dem L.A.P.D. aber sein verachtenswertes Gesicht, zu dem sich auch als Denis O’Hare als boshafter Psychiater Dr. Steele gesellt. Die Auftritte von Geoff Pierson als Staranwalt S.S. Hahn, Amy Ryan als inhaftierte Prostituierte Carol Dexter und Lily Knight als Leanne Clay, deren Sohn ebenfalls zu Northcotts Opfern gehört, sind verhältnismäßig kurz, aber dennoch wirkungsvoll und schön gespielt.
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Insgesamt ist „Der fremde Sohn“ eindringlich und mit Meisterhand gefilmt und von Eastwoods stimmungsschaffender und –unter-streichender Musik jederzeit süperb akzentuiert. Ein Film, der bei allem nostalgischen Flair durchaus auch Bezüge zu aktuellen politischen Machenschaften herstellt und die Macht des Staates und seiner Organe schonungslos an den Pranger stellt. Der Kampf einer kleinen Gruppe oder wie hier einer einzelnen Person gegen eine übermächtige Obrigkeit ist zwar ein oft verwendetes Motiv und tatsächlich gewinnt ihm Eastwood keine grundlegend neuen Facetten oder Erkenntnisse ab, doch er präsentiert es im Rahmen einer nahegehenden Geschichte in allen filmtechnischen, erzählerischen und darstellerischen Bereichen als formvollendet, wodurch jedes noch so oft verwendete Thema sehenswert geraten wäre.
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komplette Review siehe http://blogs.myspace.com/index.cfm?fuseaction=blog.view&friendId=418824324&blogId=508387511