An einen Film, der bei den Oscars mit 5 Nominierungen bedacht wurde, darunter sogar für den Hauptpreis, setzt man natürlich sehr besondere Erwartungen. Trotzdem schraubte ich diese nach einigen etwas durchwachsenen Kritiken zurück, was aber nachsichtlich eher unnötig war, denn "Der Vorleser" hat mich nicht enttäuscht und größtenteils überzeugt. Zu Beginn sieht das ganze aber noch ein wenig ernüchternd aus: Für ein feinfühliges Drama mit schwierigen Themen gibt der Film in der ersten halben Stunde viel zu viel Gas, reißt die völlig zukunftslose Beziehung zwischen Michael und Hanna zu schnell runter, sodass diese nicht nur über weite Strecken zu kalt, sondern oftmals gar unglaubwürdig wirkt. So ganz nachvollziehen kann man die Gefühle und die Taten der beiden Hauptakteure zu Beginn kaum und noch jetzt ist mir schleierhaft, wie sich der 15-jährige Junge in eine derart unsympathische Frau wie Hanna Schmitz verlieben konnte. Später im Verlauf kann sich der Streifen allerdings fangen und wenigstens in der zweiten Hälfte mit der erwarteten Dramatik aufwarten und so auch gut unterhalten. Zwar gibt es ab und zu einige klitzekleine Längen und im Grunde wäre eine etwas ausführlichere Erzählung in der ersten Hälfte des Filmes wünschenswert gewesen, um die Gefühle und Ängste der Figuren spürbarer zu machen, doch ansonsten wurden die verschiedenen, schwierigen Thematiken, die auch noch die NS-Zeit und die Judenverfolgung mit einbeziehen, gut filmisch verpackt, ohne dass sich diese im Weg stehen. Einzig auf das Thema der Verführung Minderjähriger wurde gar kein Wert gelegt, die daraus resultierende Gefahr wird nicht mal kurzzeitig angesprochen. Wo in der Handlung noch kleine, wenn auch verzeihbare Schwächen stecken, läuft in der Darstellerriege dafür alles glatt. David Kross, der als Newcomer im Fantasy-Drama "Krabat" noch schrecklich blass und langweilig blieb, kann sich in "Der Verloser" endlich vollends entfalten, und zeigt, was für eine schauspielerische Kraft in ihm steckt und was für ein Talent im emotionalen und tiefsinnigen Bereich er besitzt. Aus ihm könnte später sogar noch einer der ganz Großen werden, den ersten Schritt auf internationaler Ebene hat er demnach gesetzt. Ralph Fiennes spielt ebenfalls Michael, nur als Erwachsenen. Seine Rolle fällt weitaus kleiner aus und demnach kann er sich auch kaum freispielen, kann jedoch vor allem im letzten Drittel mit Tiefsinn und überzeugenden Darstellungen punkten. Was das Drama schauspielerisch aber zu einer Besonderheit im positiven Sinne macht, ist wie erwartet die packende Performance von Kate Winslet, die für ihre Rolle der Hanna Schmitz mit ihrem ersten, wohl verdienten Oscar als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde. Auch wenn ihre Figur vor allem in der ersten Hälfte alles andere als ein Sympathieträger ist, schafft Winslet es, Hanna mit einer so emotionalen Dichte aus Wut, Trauer und Verzweiflung auszustatten, dass man ihr fasziniert zusieht. Ob es ihre beste Leistung überhaupt ist, darüber lässt sich streiten, trotzdem kann man ihre Darstellung nur hoch loben. Zudem ist auch noch der deutsche Main Cast mit dabei. Neben Alexandra Maria Lara und Hannah Herzsprung überzeugt vor allem einmal mehr Bruno Ganz mit außergewöhnlicher Präsenz.
Fazit: Trotz einiger kleiner Schwächen im Handlungskonstrukt und in der Tiefe der Thematik, ist "Der Vorleser" ein sehr überzeugendes und packendes Drama geworden. Was ihm in der ersten Hälfte an erzählerischer Tiefe fehlt, macht er durch einen dramatischen zweiten Teil und einer großartigen Hauptdarstellerin wieder wett, die ihren ersten Oscar kaum mehr hätte verdienen können. Die Lösung des Kinotickets lohnt sich jedenfalls für diejenigen, die aber auch genau wissen, auf was sie sich einlassen, denn Mainstream-Kost wird einem hier sicherlich nicht geboten.