Liebe Cinephile,
die Feuilletonisten in Cannes müssen entzückt gewesen sein: Endlich mal wieder! Ein handfester Skandal! Ich weiß nicht, wann es einen ähnlichen Skandal gegeben hat, aber das letzte Mal dürfte fast schon Cronenbergs Crash gewesen sein...1996. Aber nun: Lars von Trier kotzt sein Seeleninneres auf Zelluloid, im Kino kommt es angeblicherweise zu Ohnmachtsanfällen, Moralwächter stehen selbstredend und auf Kommando Kopf. Kurzum: Eines intellektuellen Feuilletonisten feuchter Traum. Am Ende sind alle glücklich: Das Feuilleton hat seine Titelstory, wie man es allerorten sieht, Lars von Trier durfte sich mal wieder richtig austoben und Cannes konnte zeigen, dass es "das" noch kann und nicht bereits in schöngeistige Edelstarre verfallen ist. Die Frage der Fragen ist nun natürlich: Wenn man all' das Tamtam beiseite wischt, sich Watte in die Ohren stopft und versucht, die Hysterie nicht an sich rankommen zu lassen...bleibt da noch etwas übrig vom Antichrist?
Die Antwort ist ein zitterndes "Meine Güte...". Werden Worte wie Horror, Schock, Skandal sonst lediglich mit hirn- und intellektlosen Schmadderorgien à la Eli Roth et.al. assoziiert, womit sie eigentlich jegliche Bedeutung verloren haben, ist Antichrist hingegen ein Film, der wahrhaft und ehrlich schockiert. Der Film erweitert des Zuschauers Horizont nicht, er sprengt ihn geradezu, bis weit in die Extreme, in denen nur noch der Wahnsinn regiert. Oder wie der Film sagt: Chaos reigns! Der Film ist fast eher eine Versuchsanordnung und als solche schon ein Meisterwerk. Denn diese Anordnung ist so einfach, wie es irgendwie geht: Ein Mann und eine Frau ziehen sich zu Therapiezwecken in eine Berghütte zurück. Der Mann ist Therapeut und versucht seiner Frau nach dessen Verlust ihres kleinen Sohnes über ihre Ängste hinwegzuhelfen. Was klingt wie eine klare Angelegenheit, die auf die eine oder andere Weise ablaufen und enden kann, entpuppt sich als grauenvolles Kaleidoskop der menschlichen Seele, die in der die Berghütte umgebenen Natur zusätzlich ihre grausame Entsprechung findet.
Weder die Seele des Menschen, noch die Natur hat hier irgendetwas Beschwichtigendes, Friedliches. Sie ist im Gegenteil Hort für Chaos, Verfall und Tod. Alle Existenz wird in einem Atemzug sowohl in ihrer Entstehung und ihrer Auslöschung gesehen; dieses wird im Film wiederum in vielen Szenen auf schmerzvolle Weise verdichtet. Der Prolog zeigt das liebende Ehepaar, welches im Akt des Geschlechtsverkehrs (und aufgrund dieses Aktes!) ihren kleinen Sohn verliert...eine 5-minütige schwarz-weiße SloMo-Sequenz zu Händels "Lascia ch'io pianga" (dieses Lied werde ich immer mit dieser Szene verbinden). Allein diese eine Szene verdichtet Lust und Entstehen auf der einen und Tod und Vergänglichkeit auf der anderen Seite in einem nie gesehenen Maße. Der irgendwie fast schon bemitleidenswerte Therapieversuch des Mannes hat gegen das Chaos keine Chance. Für mich war dies die Komponente, die mit Abstand am destabilisierend gewirkt hat: Die Wissenschaft des Mannes (passenderweise auch noch Psychologie) hat die Realität in ihrer Komplexität reduziert, indem sie ihr Theorien und Modelle übergestülpt hat. In diesem Setting, wie von Trier es hier entwirft, hat dieser Ansatz jedoch keine Chance gegen das alles verschlingende, unendliche und schließlich auch unbarmherzige Chaos und reißt den Mann mit hinab. Dass dieses Chaos nun in Gestalt seiner Frau auftaucht, kann man nun lesen wie man möchte.
Wie der Film überhaupt bei jedem Betrachter sehr unterschiedliche Reaktionen hervorrufen dürfte. Das ist natürlich bei jedem Film, bzw. bei jedem Kunstwerk so. Nur zielt Antichrist so tief in die Seele des Zuschauers, das die reflektierende und reflektierte Reaktion dementsprechend individueller und extremer ausfallen dürfte als, sagen wir mal, bei einem Steven-Spielberg Film. Gerade weil Antichrist in seiner drastischen Offenheit sich jeder eindeutigen Interpretation verschließt und quasi "nach allen Seiten hin offen" ist, wird dieser Film für jeden anders wirken. So ist auch meine Kritik nur als eine von unendlichen möglichen Betrachtungsweisen zu sehen sein. Genauso wie meine Bewertung und Meinung über diesen Film. Ich kann nur für mich sagen, dass ich selten so lange und so intensiv von einem Film geschockt war und so lange über einen Film so intensiv nachgedacht habe, wie bei Antichrist.
Man muss Antichrist nicht mögen...man kann ihn scheiße finden, verlogen, lächerlich, mit Symbolen überfrachtet (nicht zuletzt ist der Film Andrei Tarkowski gewidmet)...das ist alles okay. Aber jeder Person, die dieser Film kalt lässt und ihn auf überheblich arrogante Weise als "so ein Kunstfilm" betitelt (was gestern passiert ist...), sollte der Besuch eines Kinos auf Lebenszeit verwehrt bleiben. Die können es sich zuhause mit ihren Michael-Bay-Filmen gemütlich machen, wo sie hingehören. 1 (+) (das kleine Plus nicht wegen der "Qualität" des Films, sondern für den künstlerischen Mut).
Ohne Worte.