Wir kennen sie alle, die Anekdote vom kinobesessenen jungen Burschen, der schon im Mutterleib damit begonnen haben muss, Italowestern und Spaghettitrash aufzusaugen, der in seiner Jugend in Videotheken jobbte, ehe ihm die Ehre des Sprachrohrs jener Do-it-yourself-Generation zuteil wurde, die aus einer Kultur des Überflusses erwachsen ist. Die Rede ist natürlich von keinem Geringeren als Quentin Tarantino. Mit 29 Jahren drehte der Kultregisseur sein Leinwanddebüt: "Reservoir Dogs" hieß die filmische Fingerübung um sechs Gangster, die einen Juwelenraub planen, aber durch Verrat aus den eigenen Reihen ausgebremst werden. Der Independent-Streifen durchlief die obligatorische Mundpropaganda, und fortan rissen sich die Darsteller in Hollywood förmlich darum, Bestandteil von Tarantinos nächstem Film zu sein. Zwei Jahre später dann stürmte die revolutionäre Gangstergroteske "Pulp Fiction" das Zelluloid, vollgestopft mit genialen Dialogen und kultig-coolen Charakteren, dazu ausgestattet mit einem asynchronen, sich quer durch die Popkultur zitierenden Erzählstil, der sich konsequent gegen die dramaturgischen Konventionen stellte.
Der Definition nach ist "pulp" nicht nur eine formlose Masse, sondern auch der Oberbegriff für die Schund- und Trivialliteratur, beispielsweise aus den billigen Groschenheftchen. Der Film selbst spielt mit Struktur und Gestus derselben, kündet dabei von einer Zeitstimmung eben einer solchen Trivialität und Bedeutungslosigkeit und führt sie sogleich ad absurdum.
Die Story entfaltet sich episodisch. Tarantino, der das Drehbuch zusammen mit seinem Kumpel Roger Avary schrieb, springt unverschämt zwischen den Zeitebenen hin und her, ohne dabei aus dem Gleichgewicht zu geraten, wirft mehrere Handlungsfäden aus und schließt am Ende den Kreis. Da wäre das Kleinkriminellen-Pärchen Pumpkin (Tim Roth) und Honey Bunny (Amanda Plummer), welches das Szenario eröffnet. Allein schon die Raubüberfall-Planung der beiden Schmalspurganoven in einem Schnellimbiss sollte als Beweis für den spritzigen Witz des Skripts reichen. Abrupt bricht diese Sequenz ab und es folgt zunächst der musikalisch druckvoll untermalte Vorspann. Danach führt Tarantino die beiden Hitmen Jules (Samuel L. Jackson) und Vincent (John Travolta) ins Geschehen ein, die für ihren Boss Marsellus Wallace (Ving Rhames) einen schwarzen Aktenkoffer in einer Dachwohnung abholen sollen. Dieses Unternehmen gestaltet sich jedoch schwieriger als gedacht und endet in einem blutigen Massaker. Zwischendrin machen wir Bekanntschaft mit Marsellus` Frau Mia (Uma Thurman), die Vincent im Auftrag seines Bosses in ein funky Retro-Tanzlokal mit Namen “Jack Rabbit Slim`s” ausführen soll. Doch auch dieses Rendez-vous hat eine mittelschwere Katastrophe zur Folge, da Mia beinahe an einer Überdosis krepiert und mithilfe einer Adrenalinspritze in den normalen Bewusstseinszustand zurückgeholt werden muss. Weiter geht es mit dem Boxer Butch Coolidge (Bruce Willis), der nach einem gewonnenen Kampf (um genau zu sein, hat er seinen Gegner getötet!!), den er eigentlich an Unterwelt-Boss Wallace verkauft hatte, Schwierigkeiten mit dem nun sehr zornigen schwarzen Gangster bekommt. Zu allem Überfluss verschlampt Butch`s Freundin (Maria de Medeiros) bei der Flucht auch noch seine goldene Uhr, die er ehemals von einem Kriegskamerad (Christopher Walken) seines Vaters überreicht bekam…
Der größte Trumpf des acht Millionen Dollar teuren Films ist das Drehbuch. Wie in der populären Lyrik etwa eines Elmore Leonard verbindet Tarantino schroffen Gangsterjargon mit cleveren Pointen und intelligenten Zwischentönen. Ethische Werte und Wertvorstellungen werden beliebig umdeutbar. Maßgebend war der lakonisch-abgebrühte Humor, der auch in der satirischen Überzeichnung der Gewalt zum Tragen kam - seit Tarantino und “Pulp Fiction” kann man über brutale Gangster lachen, die auf ihren Killer-Streifzügen über Gott und die Welt - oder einfach nur die Interpretation einer Bibelstelle philosophieren, so wie Jules, gespielt von Samuel L. Jackson, über Ezekiel 25,17:
>>Der Pfad der Gerechten ist auf beiden Seiten gesäumt mit Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. Und ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen, meine Brüder zu vergiften und zu vernichten und mit Grimm werde ich sie strafen, auf dass sie erfahren sollen, ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe!<<
Fast schon legendär ist die ausschweifende Debatte über Burger und die Tücken des "metrischen Systems". Eine Sequenz, die exemplarisch für den Film steht, weil sie eben keinem Thriller-Schema Folge leisten, sondern ein selbstreferenzielles Konzept kultivieren. Wie im Jack Rabbit Slim`s, in dem Vincent und Mia zwischen all den Marilyn Monroe- und Buddy Holly-Lookalikes einen spontanen Twist auf`s Parkett legen. Für den Soundtrack mischte Tarantino Stücke aus diversen Genres, hauptsächlich lässige Rockabilly- und Surfrock-Nummern, zu einem wild-bunten Cocktail zusammen, aus dem Dusty Springfields "Son of a Preacher Man" und Maria McKees "If Love is a red dress" überraschend hervorstechen.
John Travolta, der lange als Schauspieler verkannte Seventies-Tänzer, bekam durch “Pulp Fiction” die Chance auf ein sensationelles Comeback. Mit langer Matte und elegantem Zwirn katapultierte sich Travolta wieder in die erste Darsteller-Liga und erhielt zurecht eine Oscar-Nominierung. Einen überlebensgroßen Charakter prägte zweifelsohne auch Samuel L. Jackson als cholerischer Lockenkopf, der in den entscheidenden Momenten eine stoische Ruhe bewahrt. Bruce Willis, dessen Auftritt im Actionkracher “Stirb langsam” seinerzeit grob überschätzt wurde, zeigt, dass er auch einen völlig anders angelegten Film wie diesen beherrscht. Seine Konfrontation mit Marsellus, welcher gen Ende vor den Augen seines Erzfeindes zur totalen Lachnummer degradiert wird, gehört zu den lustigsten Momenten des Films. Überhaupt lebt “Pulp Fiction” von solchen absurd-bizarren Wendungen wie dieser. Der übrige Cast ist mit Uma Thurman als Bob tragende, koks-schnupfende Gangsterbraut und etwas andere Femme fatale, Harvey Keitel als kauziger Cleaner, einer gepiercten Rosanna Arquette, Christopher Walken als Kriegsveteran, Tim Roth, Eric Stoltz oder Ving Rhames als Boss Marsellus bis in die Nebenrollen brillant besetzt. Einen Kurzauftritt gestattet sich auch Tarantino selbst - und er macht seine Sache gar nicht mal so schlecht - in Bademantel und ängstlicher Erwartung seiner Frau Bonnie, die ja nicht erfahren darf, dass Vincent und Jules seine Bude kurzerhand zum "Depot für tote Nigger" umfunktioniert haben.
“Pulp Fiction” war erst der zweite Film eines Trendsetters, der nicht gerade als Vielfilmer zu bezeichnen ist. Und doch schuf Quentin Tarantino mit diesem Meisterwerk einen der einflussreichsten Filme - wenn nicht sogar den einflussreichsten Film überhaupt - der 90er Jahre. Und wie man auch immer zu dem eigenwilligen Schöpfer solcher kontroversen Kino-Meilensteine wie “Kill Bill Vol. 1 & 2” stehen mag: Diese 1994 entstandene, kultige Gangster-Wundertüte, die oft kopiert, aber nie erreicht wurde, definierte einen neuen cineastischen Standard und ist unbestritten ein moderner Klassiker!