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    Drei Kilometer bis zum Ende der Welt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Drei Kilometer bis zum Ende der Welt

    Der Gewinner der Queeren Palme 2024

    Von Ulf Lepelmeier

    Der rumänische Regisseur Emanuel Parvu erzählt in seinem bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Queeren Palme ausgezeichneten Drama „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ von einem Überfall und dem darauffolgenden Zwangsouting, das zu abrupten Veränderungen in der einst liebevollen Familie des 17-jährigen Adi führt. Die Beziehung zu seinen Eltern erleidet nach der unfreiwilligen Offenbarung einen sofortigen Knacks, der sich rasch zu einem tiefgreifenden Bruch ausdehnt. Parvu scheint dabei mehr Interesse an der Aufdeckung der reaktionären Strukturen der dörflichen Inselgemeinschaft, gerade in Bezug auf Homophobie und Korruption, als an einem intimen Familienporträt zu haben. So vernachlässigt er allerdings das emotionale Zentrum des Films.

    In den Sommerferien kehrt der 17-jährige Adi (Ciprian Chiujdea) in sein auf einer Insel gelegenes Heimatdorf im rumänischen Teil des Donaudeltas zurück. Als er eines Abends auf dem Rückweg von einem Club brutal zusammengeschlagen wird, beginnt für ihn ein nicht abreißendes Martyrium. Besonders sein namenlos bleibender Vater (Bogdan Dumitrache) besteht auf einer Anzeige auf dem Polizeirevier, da er glaubt, dass der Dorfmogul mit der Tat Druck wegen der Schulden der Familie aufbauen will. Aber als die Eltern damit konfrontiert werden, dass es sich offenbar um einen homophoben Übergriff gehandelt hat, setzen sie alles daran, dass es sich nicht im Dorf herumspricht. Außerdem suchen sie nach Möglichkeiten, um ihren Sohn „zu heilen“. In dieser Lage scheint sich Adi nur noch auf seine Freundin Ilinca (Ingrid Micu Berescu) verlassen zu können…

    Adi (Ciprian Chiujdea) hat nach dem Überfall zunächst die volle Unterstützung seiner Eltern – aber auch nur, bis sie von seiner Homosexualität erfahren. Salzgeber
    Adi (Ciprian Chiujdea) hat nach dem Überfall zunächst die volle Unterstützung seiner Eltern – aber auch nur, bis sie von seiner Homosexualität erfahren.

    Mit seiner so minimalistischen wie naturalistischen Erzählweise reiht sich Emanuel Parvu in die Tradition rumänischer Filmemacher wie Cristian Mungiu („R.M.N.“), in dessen Film „Graduation“ er selbst in einer Nebenrolle zu sehen war. In seinem Coming-of-Age-Drama konfrontiert er einen Teenager mit der plötzlichen Ablehnung durch Familie, Kirche und Staatsgewalt. Was Adi von einem Moment zum anderen vom Opfer einer perfiden Straftat zu einer in dieser erzkonservativen Gemeinschaft „nicht schützenswerten“ Person macht, ist allein seine Homosexualität. Parvu prangert dabei nicht nur die in Rumänien weitverbreitete Homophobie an, sondern beleuchtet auch die staatliche Korruption und die verheerenden religiösen Irrtümer, die diese ablehnende Haltung nähren.

    In langen, intensiven Dialogszenen lässt der Regisseur die kalte, bürokratische Sprache der Polizei und der kirchlichen Autoritäten auf das Publikum wirken. Deren ausweichenden Antworten und ihre reaktionären Weltanschauungen nähren die erschreckende Ablehnung der Eltern gegenüber ihrem bis eben noch geliebten und geschätzten Sohn. Die zentrale Stärke des Films liegt in der schonungslosen Darstellung eines unverrückbaren Korruptionssystems sowie der fehlenden Toleranz und Menschlichkeit von Kirche und Dorfgemeinschaft.

    In der Tradition einiger der ganz Großen

    Im Vergleich zu den herausragenden Werken der Neuen Rumänischen Welle, etwa von Cristian Mungiu, Corneliu Porumboiu („Police, Adjective“) oder Cristi Puiu („Der Tod des Herrn Lazarescu“), mangelt es „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ aber sowohl an formaler Präzision als auch an erzählerischer Tiefe. Obwohl hier die zentralen Themen des rumänischen Kinos – von Korruption über Ausgrenzung bis hin zu (verlogener) Moral –aufgegriffen werden, entwickelt das Martyrium des schweigsamen Protagonisten nur eine eingeschränkte emotionale Sprengkraft. Der Fokus ist nicht stark genug auf die zerbrechende Familie gerichtet. Zudem bleiben viele (Neben-)Figuren zu hölzern und klischeebehaftet, um der geradlinig und vorhersehbar verlaufenden Handlung das gewisse Etwas zu verleihen.

    Zu sehen, wie Adis Mutter selbst die absurdesten religiösen und medizinischen Optionen zur vermeintlichen Rettung ihres einzigen Kindes in Betracht zieht, ist dennoch erschreckend. Dabei bietet Laura Vasiliu neben Adrian Titieni als redegewandtem und erzkonservativem Priester die stärkste Schauspielleistung. Der „4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage“-Star lässt den Schmerz und die Verzweiflung ihrer Mutterfigur spürbar werden, auch wenn man ihre Handlungen nur schwerlich nachvollziehen vermag. Hauptdarsteller Ciprian Chiujdea bleibt hingegen blass. Sein durchgehend schweigender Adi entwickelt sich zur passiven Opferfigur, an deren Beispiel die erschreckende Homophobie von Familie und Gesellschaft thematisiert wird, die aber selbst kaum zu einem tragischen, komplexen Charakter heranwächst.

    Die Dorfsheriffs wollen den Fall unter den Teppich kehren – weil sie der Meinung sind, dass es vor allem auch für die Familie des Opfers das Beste ist. Salzgeber
    Die Dorfsheriffs wollen den Fall unter den Teppich kehren – weil sie der Meinung sind, dass es vor allem auch für die Familie des Opfers das Beste ist.

    Eine kommunikative Auseinandersetzung oder ein aktives Bemühen um gegenseitiges Verständnis scheint ab dem Punkt, an dem die mögliche Homosexualität des Sohnes ins Spiel kommt, für alle drei Familienmitglieder nahezu ausgeschlossen. Eine intensivere Fokussierung auf die Figuren und ihr Innenleben, ihre Enttäuschungen und ihre divergierenden Lebensvorstellungen hätte dem Film womöglich gutgetan.

    Dass Adi niemals Stellung bezieht, dass wir nichts über sein Leben in der Stadt, seine Gefühle und Absichten erfahren, und dass selbst ein angeblicher Kuss nicht gezeigt wird, soll verdeutlichen, wie stark die Homosexualität, insbesondere im ländlichen Rumänien, auch heute noch ein Tabu darstellt. Da kann man nur hoffen, dass der final eingefangene Sonnenaufgang trotzdem auf einen letzten Funken Hoffnung hindeutet.

    Fazit: „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ fängt die Korruption und die ungeheure Aktionskette ein, die das ungewollte Outing eines jungen Mannes nach sich zieht. Regisseur Emanuel Parvu interessiert sich dabei leider mehr für die dörflichen Strukturen als den tiefgehenden innerfamiliären Konflikt.

    Wir haben „Drei Kilometer bis zum Ende der Welt“ beim 21. Festival de Sevilla gesehen.

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