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    Kinds of Kindness
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Kinds of Kindness

    Drei Filme in einem, einer abgefuckter als der andere

    Von Christoph Petersen

    Yorgos Lanthimos hat zwei verschiedene Seiten. Wenn er mit dem australischen Drehbuchautor Tony McNamara zusammenarbeitet, entstehen solche Filme wie „The Favourite“ oder „Poor Things“ – schon auch ziemlich durchgeknallt und garstig, aber noch Mainstream-tauglich genug, dass zwei Arthouse-Superhits und fünf Oscars (bei insgesamt 21 Nominierungen) dabei herausgekommen sind.

    Aber überhaupt erst bekanntgeworden ist der Grieche durch die Kooperationen mit seinem Landsmann Efthimis Filippou. Mit ihren abgründigen, richtiggehend ungemütlichen Werken „Dogtooth“ und „Alpen“ haben sie die sogenannte Greek Weird Wave überhaupt erst begründet – und ihre Zusammenarbeit später auch in englischer Sprache mit „The Lobster“ und „The Killing Of A Sacred Deer“ fortgesetzt.

    Nur ein halbes Jahr, nachdem „Poor Things“ beim Filmfestival in Venedig Weltpremiere gefeiert und den Goldenen Löwen gewonnen hat, wechselt Lanthimos nun wieder die Seiten: Auch in „Kinds Of Kindness“ gibt es wie in eigentlich allen Filippou-Skripts etliche Momente, bei denen man kaum hinsehen kann, die in ihrer verstörenden Krassheit aber auch diebischen Spaß machen können – nur eben im Gegensatz zu „Poor Things“ sicherlich nicht jedem. In den drei jeweils circa einstündigen Episoden des Anthologie-Films spielen zwar stets dieselben Schauspieler*innen mit, allerdings verkörpern sie jedes Mal andere Rollen. Was alle drei Geschichten zudem gemein haben, sind der schwarze Humor, der gnadenlose Biss und reichlich zynische Twists. Quasi „Black Mirror – The Fucked Up Episodes“.

    Disney und seine verbundenen Unternehmen
    Robert (Jesse Plemons) in den Armen von Raymond (Willem Dafoe). Aber in denen darf er nur liegen, solange er wirklich ALLES tut, was sein Boss ihm befiehlt.

    Schon über dem Studiologo ertönt statt der ikonischen 20th-Century-Fox-Fanfare der Eurythmics-Song „Sweet Dreams“. Bei der Vorführung in Cannes haben bereits die ersten Töne für spontanen Jubel gesorgt – und einige im Publikum haben sogar Karaoke-Style eingestimmt. Aber wenn man auch nur ungefähr weiß, worum es in „Kinds Of Kindness“ thematisch geht, dann wirken die Liedzeilen plötzlich regelrecht furchterregend: „Some of them want to use you / Some of them want to get used by you / Some of them want to abuse you / Some of them want to be abused.“ Alle drei Geschichten handeln schließlich von Abhängigkeiten in der Liebe, von Gurus, Sekten und Kontrollfreaks. Außerdem gemein haben sie die nie ein Wort sprechende Figur R.M.F. (Yorgos Stefanakos) – und nach dem sind auch die einzelnen Episoden benannt.

    Wir wollen nicht zu viel vorwegnehmen, weil „Kinds Of Kindness“ nicht nur von seinen expliziten Wendungen lebt, sondern überhaupt von der Frage, was da wohl noch alles kommen mag. Deshalb gehen wir in dieser Kritik nur auf den Inhalt der ersten Episode „The Death Of R.M.F.“ ein. Sie handelt von Robert (Jesse Plemons). Er ist erfolgreich in seinem Job, hat ein fantastisches Haus und führt eine glückliche, wenn bislang auch kinderlose Ehe mit Sarah (Hong Chau). Aber das alles muss er teuer bezahlen, denn sein Boss Raymond (Willem Dafoe) entscheidet wirklich alles in seinem Leben: was er isst, was er trinkt, was er liest, wann er aufsteht, ob er Sex hat, usw.

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    Im dritten Teil „R.M.F. Eats A Sandwich“ spielt Emma Stone eine Sektenjüngerin auf der Suche nach ihrem Heiland.

    Erst als Raymond verlangt, dass Robert zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort ein bestimmtes Auto rammt und dabei womöglich den titelgebenden R.M.F. tötet, sagt sich der Zögling von seinem Boss los. Allerdings fällt es Robert alles andere als leicht, nach all den Jahren wieder eigene Entscheidungen zu treffen – selbst die Frage nach Rotwein oder Weißwein stellt ihn bereits vor ein fast unüberwindbares Hindernis…

    Als man zum ersten Mal eine der täglichen, handgeschrieben Karteikarten sieht, die Robert von seinem Chef bekommt und auf denen minutiös sein geplanter Tagesablauf vorgegeben ist, scheint schon das sehr, sehr merkwürdig. Aber Lanthimos und Filippou treiben die Idee gnadenlos immer weiter – und es wird zunehmend immer verstörender zu erfahren, was Raymond sonst noch alles im Leben seines Angestellten kontrolliert. Dass die Episode dabei nicht einfach zu einem geradlinigen Sketch mit plumper Punchline ausartet, liegt vor allem an Jesse Plemons („Killers Of The Flower Moon“), der uns gerade, wenn er plötzlich auf sich gestellt ist, am ganzen Schmerz seiner offensichtlich lebensunfähig gewordenen Figur teilhaben lässt. Man fiebert mit, so absurd das auch alles ist – bis hin zu einer finalen Kulmination, bei der sich nicht wenige im Kinosaal die Hände vors Gesicht gehalten haben.

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    Die Gurus einer Wassersekte (Willem Dafoe, Hong Chau) warten auf ihr verlorenes Schaf (Emma Stone).

    Sowieso sind es vor allem die wiederkehrenden Stars um Emma Stone („La La Land“), Margaret Qualley („Once Upon A Time… In Hollywood“), Hong Chau („The Whale“) und Willem Dafoe („The Florida Project“), die einen mit ihrer schieren Präsenz (und einer geradezu ansteckenden Freude an ihren abgefahrenen Figuren) auch dann bei der Stange halten, wenn die drei Episoden jeweils ein wenig und alle zusammen sogar spürbar zu lang geraten sind. Ob das Triptychon am Ende tatsächlich etwas Tiefschürfendes über Abhängigkeits- und Hörigkeitsverhältnisse freilegt oder ob es dann doch „nur“ wunderbar böse Räuberpistolen mit einem massiven Schock- und Unterhaltungswert sind, muss letztlich jeder für sich entscheiden.

    Aber eines ist sicher: Egal ob eine der überraschendsten Gruppensex-Szenen überhaupt, der angesengte Helm von Ayrton Senna, Willem Dafoe in einer orangenen Speedo-Badehose, Kannibalismus (natürlich!), Emma Stone beim Highspeed-Driften in einem lilafarbenen Dodge Challenger oder eine Szene, die alle Tierfreunde gegen die frisch gebackene Oscargewinnerin aufbringen könnte – der nächste WTF-Moment ist nie mehr als ein paar Minuten entfernt!

    Fazit: Als würde man drei Episoden von „Black Mirror“ oder „The Twilight Zone“ am Stück bingen, die allesamt deshalb nicht im Fernsehen oder auf Netflix laufen, weil sie dafür einfach viel zu abgefuckt sind. (Außerdem sehen sie natürlich viel stylischer aus und sind auch noch unglaublich stark besetzt, aber das versteht sich bei Yorgos Lanthimos ja quasi eh von selbst.)

    Wir haben „Kinds Of Kindness“ auf dem Cannes Filmfestival 2024 gesehen, wo er als Teil des offiziellen Wettbewerbs gezeigt wurde.

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