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    Bei Einbruch der Dunkelheit
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Bei Einbruch der Dunkelheit
    Von Andreas R. Becker

    Das Kino ist seit jeher auch ein Ort der Emotionen. Kafkas viel zitierter Tagebucheintrag „Ins Kino gegangen, geweint“ hat schon früh Zeugnis darüber abgelegt, dass damit die ganze Bandbreite widersprüchlicher Gefühle gemeint ist. Menschen gehen nicht nur ins Kino, um zu lachen und zu lieben, sondern auch um wütend zu sein, zu hassen und zu trauern. Vielleicht liegt es am allgegenwärtigen Grauen in den Medien, vielleicht an dem, was man im Kino alles schon längst gesehen hat. Vielleicht auch an schlechten Drehbüchern oder schlechten Darstellern, vermutlich an einer Kombination aus alldem. Fest steht aber, dass man in letzter Zeit am Ausgang des Kinos zum Ende der Vorstellung eher zuckende Achseln, als strahlend gutgelaunte oder verheulte Gesichter beobachten kann. Aber auch hier gilt die regelbestätigende Ausnahme. Eine davon ist das schwedische Episodendrama „Bei Einbruch der Dunkelheit“. Darin erzählt Regisseur Anders Nilsson auf fesselnde, dramaturgisch makellose Weise die Geschichten dreier Menschen, für die der Begriff „Zuhause“ nicht mit Wärme und Geborgenheit, sondern Angst und Schrecken verbunden ist.

    Leyla (Oldoz Javidi) ist die Tochter eines eingewanderten Ehepaares. Ihr Vater (Cesar Sarachu) glaubt herausgefunden zu haben, dass seine ältere Tochter Nina (Bahar Pars) vorehelichen Geschlechtsverkehr hatte und damit die Ehre der Familie zerstört hat. Als die kompromisslose Härte der Konsequenzen, die ihr drohen, deutlich werden, ergreift Nina die Flucht. Sie wird zum Opfer einer gnadenlosen Hetzjagd durch die gesamte Sippe, bei der selbst die junge Leyla, die ihre große Schwester vergöttert, als Mittel zum Zweck eingesetzt wird.

    Carina (Lia Boysen) arbeitet zusammen mit ihrem Mann Håkan (Peter Engman) beim selben Sender als Fernsehjournalistin. Die Eifersucht Håkans scheint zu Anfang noch eine gewisse, nachvollziehbare Grundlage zu haben. Schnell wird jedoch klar, dass sie krankhafte Auswüchse annimmt. In Kombination mit cholerischen Anfällen wird sie zum gefährlichen Cocktail für Carina, die er brutal demütigt und verprügelt. Schließlich beginnt er sogar, ihre gemeinsamen Kinder auf perfide Weise zu manipulieren und sie gegen ihre Mutter auszuspielen.

    Aram (Reuben Sallmander) führt mit seiner Schwester Nadja (Nisti Stêrk) einen kleinen, aber erfolgreichen Nachtclub und ist mit seinem Türsteher Peter (Per Graffman) befreundet. Als dieser an einem Abend einige Gäste abweist, rastet einer der Verprellten aus und schießt mit einer Pistole wahllos in die Menge. Peter wird schwer verletzt und Aram ist der einzige, der die Täter identifizieren kann. Es stellt sich heraus, dass es sich bei dem Schützen um ein eben aus dem Gefängnis entlassenen Kriminellen handelt. Die Morddrohungen für Aram und seine ihm Nächsten, sollte er beim Prozess aussagen, lassen nicht lange auf sich warten...

    Lange ist es her, dass das Schicksal existentiell bedrohter Menschen auf der Leinwand so mitreißend und spannend war. Die ausweglose, in ästhetische Bilder verkleidete Düsternis des Films lässt sich am ehesten noch mit Das Haus aus Sand und Nebel vergleichen, übertrifft diesen aber vor allem in der Härte der psychischen und physischen Darstellung. Sie gipfelt in einer Szene an einer deutschen Autobahnraststätte, die in ihrer Inszenierung an die äußersten Abgründe menschlicher Grausamkeit führt und sich heftig ins Gedächtnis des Zuschauers einbrennt und dort noch lange über den Abspann hinaus wirksam bleibt.

    Während in der zum Vergleich herangezogenen amerikanischen Produktion vor allem eine Verkettung unglücklicher Umstände Ursache des Dilemmas ist, sind es in „Bei Einbruch der Dunkelheit“ in erster Linie die extrem ungleichen Machtverhältnisse. Beide Filme, so sie auch verschiedene Antworten geben mögen, stellen die Frage nach Gerechtigkeit und ihrer Erreichbarkeit innerhalb der gegebenen sozialen, politischen und bürokratischen Verhältnisse. Im Kampf um das „Haus aus Sand und Nebel“ sind sie undurchdringbar und kafkaesk, der Schwedenexport lässt zumindest einen Hauch restlichen Optimismus’ über. Im vollen Bewusstsein aller Risiken nehmen die Protagonisten seiner drei Episoden ihr Schicksal in die Hand und wagen einen Schritt aus dem Teufelskreis. Dabei straucheln sie immer wieder, weil ihre Gefühle dem Verstand ein Bein stellen, und treiben damit die Spannung der unvorhersehbaren Handlung in nervenzerreißende Höhen. Durch die ungleich verteilte Gewichtung der drei Parallelstränge wird sie noch weiter aufgebaut, weil irgendwann immer die Frage aufkommt, was eigentlich gerade bei X oder Y passiert. So gelingt es Nilsson, auf der vollen Länge von 134 Minuten, trotz der eher ruhigen Bilder, ein Niveau stetiger Atemlosigkeit aufrechtzuerhalten.

    Darüber hinaus ist es gelungen, auf stereotype Darstellungen absolut zu verzichten. Nichts wird in Schubladen gesteckt, indem es benannt würde. Vielmehr wird der westlich sozialisierte Mensch geschickt mit seinen Vorurteilen konfrontiert, die ihm dann mindestens an einer Stelle schallend um die Ohren gehauen werden. Damit gelingt es, die gezeigte häusliche Gewalt und die verbundenen Schicksale auf ein allgemeines, ortsübergreifendes Level zu heben, das überall in Europa stattfinden könnte. Oder, um es mit den Worten von Carina auszudrücken: „Es geht nicht um Religion oder Herkunft.“

    Als einziger Wermutstropfen bleibt das Ende des Films und sein zweifellos streitbarer Tonfall

    stehen, der im Rückblick auf das übrige Geschehen manch einem als Fremdkörper erscheinen mag. Von einem Happy End kann aber dennoch keine Rede sein. Wer sich mit einem leisen und offenen Hoffnungsschimmer am Ende eines schwarz in schwarz gehaltenen Dramas abfinden kann, wird bei Einbruch der Dunkelheit eine gut gespielte, ultra verdichtete emotionale Reise durch das Leben drei spannender Charaktere erleben, wie sie das Kino lange nicht gesehen hat.

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