Filmstarts-Interview mit "Verblendung"-Regisseur Niels Arden Oplev und Hauptdarsteller Michael Nyqvist
Mittwoch, 30. September 2009 - 11:09
von Christoph Petersen und Jan Hamm

Stieg Larssons Roman „Verblendung“ war 2008 das bestverkaufte Buch der EU, da ließ eine Verfilmung nicht lange auf sich warten, was keine Überraschung ist - dass, die Umsetzung aber auch so außergewöhnlich gut geworden ist, und keineswegs von der Düsternis der Vorlage abgewichen wurde, ist Niels Arden Oplev zu verdanken. Filmstarts traf den dänischen Regisseur und seinen schwedischen Hauptdarsteller Michael Nyqvist beim Filmfest Hamburg zum Gespräch.

Filmstarts: „Verblendung“ war 2008 der EU-weit meistverkaufte Roman, Stieg Larsson zählt inzwischen zu den weltweit meistgelesenen Krimiautoren. Wie erklären Sie sich den enormen Erfolg?

Michael Nyqvist: Was Schweden betrifft, denke ich, dass Stieg einfach viele Menschen aufgerüttelt hat, indem er hart und konsequent auf die Schattenseiten der Gesellschaft eingeht. Wir denken, wir seien die Besten - aber wir sind es nicht.

Niels Arden Oplev: In „Verblendung“ geht es um patriarchalischen Machtmissbrauch, um brutale Vergewaltigung von Schutzbefohlenen durch vorgeblich ehrbare Mitglieder der Gesellschaft. So etwas in Schweden zu schreiben, ist provokant, es ist ein ernsthafter Angriff auf die Fassade des Sozialsystems.


„Verblendung“: Hauptdarsteller Michael Nyqvist

Filmstarts: Was hat „Verblendung“ anderen Krimi-Erzählungen voraus?

Niels Arden Oplev: Erst dachte ich, es handelt sich um schlicht um einen weiteren Hype. Nachdem ich den Roman selbst gelesen hatte, wurde mir klar, dass er sich von typisch skandinavischen Krimis, etwa der „Wallander“-Serie, abhebt. Die zwei Hauptfiguren, Blomkvist und Lisbeth, sind frisch. Er ist ein investigativer Journalist, kein programmatisch melancholischer und resignativer Cop. Sie übt diese mysteriöse Racheengel-Faszination aus, über sie kann Stieg auch sehr düstere Aspekte vermitteln, ohne den Publikumskredit zu verlieren. Die beiden wirken nahezu therapeutisch aufeinander, über ihr Verhältnis hebt Stieg Sozialkritik auf ein neues Level.

Filmstarts: Michael, deine Figur ist einem Russel Crowe in State Of Play nicht unähnlich. Sie steht für investigativen Journalismus, nicht für staatliche Macht...

Michael Nyqvist: Ja, Stieg hasste festgefahrene Machtstrukturen, da sie den Nährboden für patriarchalische Gewalt stellen. Er hatte eine Mission, wollte die schwedische Gesellschaftsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg neu thematisieren. In unserer Erzählung geht es ja auch um die unmittelbaren Echos des Dritten Reiches, etwa in Form einer erfolgreichen Unternehmerfamilie, in der die Nazi-Ideologie alles andere als tot ist und sich in unvorstellbarer Destruktivität entlädt. Als Journalist dringt Blomkvist von außen ein, wühlt historischen Staub auf. Das ist in Schweden bislang viel weniger als in Deutschland geschehen und längst überfällig.


„Verblendung“: Regisseur Niels Arden Oplev

Filmstarts: Blomkvist geht einem alten Verbrechen auf den Grund, das ihn vorerst weder professionell, noch persönlich betrifft. Heldentum oder Obsession?

Niels Arden Oplev: Anfangs hat er aufgrund privater Rückschläge den Glauben an sich verloren. Warum zum Teufel sollte er als Detektiv anheuern? Ja nur, weil er nichts mehr zu verlieren hat. Er muss sich beweisen, der Fall ist seine zweite Chance. Ein Aufgeben kommt hier nicht in Frage. Also ja, er ist obsessiv. Aber das schließt einen aufrichtigen Gerechtigkeitssinn keineswegs aus.

Filmstarts: Lisbeth hat dieses Ideal nicht. Warum harmonieren sie und Blomkvist dennoch?

Niels Arden Oplev: Sie ist Opfer sexueller Gewalt geworden und hat sich zur Gegenwehr entschlossen. Das ist ihre Art der Konfrontation mit den traumatischen Erfahrungen und er erkennt dies an...

Michael Nyqvist: ...während die Methoden der beiden gleichermaßen anarchistisch sind.

Niels Arden Oplev: Die Unterschiedlichkeit ihrer Perspektiven macht sie als Team sehr stark. Ihre radikale Gegenwehr hat eine befreiende Wirkung, weil das erst einmal zeigt: Man muss sich der Opferrolle nicht ergeben, so übermächtig die strukturelle Gewalt auch sein mag.

Michael Nyqvist: Er wiederum zeigt, dass diese Übermacht dann mit „leichten Waffen“ - Stift, Handy und PC - und einem wachen Verstand ausgehebelt werden kann. Beide sind Kämpfernaturen, das schweißt sie eng zusammen.


„Verblendung“: Hauptdarsteller Michael Nyqvist

Filmstarts: Mit der Verfilmung eines so erfolgreichen Romans sind gewaltige Erwartungen verbunden, sowohl seitens der Fangemeinde, als auch kommerziell. Wie habt ihr euch der Adaption genähert?

Niels Arden Oplev: Wir hätten es uns einfach machen und eine schwedische Variation von „Das Schweigen der Lämmer“ ansteuern können. Uns war es aber wichtig, Suspense amerikanischer Prägung mit europäischem Arthouse-Geist zu kombinieren. Dazu haben wir eine konventionelle Dramaturgie aufgegeben. Wir gaben Lisbeth eine ausführliche Exposition, die einen thematischen aber keinen inhaltlichen Bezug zur Haupthandlung hat und fast als eigenständiger Kurzfilm durchgehen könnte. Erstaunlicherweise hat das bislang niemand kommentiert, also wird es wohl funktioniert haben (lacht). Das war wichtig, um die Figur kennenzulernen, eine starke Empathie für sie zu ermöglichen. In Hollywood hätte man darüber geflucht, hier aber konnte ich glücklicherweise durchsetzen, einen Zweieinhalbstünder abzuliefern. Nur so war ausreichend Zeit für einen gründlichen Aufbau der Geschichte vorhanden. Beim Transfer von der Vorlage ins neue Medium haben wir an ein paar Details geschraubt. Im Film ist es etwa nicht Blomkvists Tochter, sondern Lisbeth, die entscheidende Vermutungen zu den Mordmotiven anstellt. So kann glaubhaft vermittelt werden, weshalb genau unsere beiden Hauptfiguren zusammenarbeiten müssen.

Filmstarts: Die Rechnung scheint aufgegangen zu sein, immerhin war erst eine „kleine“ TV-Adaption geplant. Doch im Abspann von „Verblendung“ werden nun bereits die Back-to-Back gedrehten Fortsetzungen beworben...

Michael Nyqvist: Es wäre dumm gewesen, die Filme nicht ins Kino zu bringen und ich bin sehr zufrieden damit, dass uns der große Erfolg dieses Tor geöffnet hat. Erst wollte ein schwedischer TV-Sender das Material bunkern. Stieg hat vor seinem Tod sogar einen Deal für die TV-Verwertung abgeschlossen - bevor er überhaupt ein Wort geschrieben hatte.

Niels Arden Oplev: Nicht wirklich, oder? (lacht)

Filmstarts: Im Original heißt das Buch übersetzt „Männer, die Frauen hassen“. Der deutsche Verlag hatte offenbar nicht den Mut, den provokanten Titel beizubehalten...

Michael Nyqvist: Ich mag den Originaltitel. Er spricht eben etwas an, das nicht unter den Tisch gekehrt werden darf. Stieg konnte ihn damals gegenüber seinen Verlegern durchsetzen, die waren ebenfalls skeptisch. Es klang ihnen wohl zu sehr nach Pulp-Erzählung. In Schweden gibt es eine Handvoll nationaler Traumata. Dazu zählt ein Prostitutionsskandal in höchsten Regierungskreisen, bei dem es um 14-jährige Mädchen ging. Unvorstellbar, wie das Thema tabuisiert wurde.



„Verblendung“: Regisseur Niels Arden Oplev

Niels Arden Oplev: Hast du dich für die Geschichte von britischen Boulevard-Storys inspirieren lassen? Was zur Hölle geht bitteschön in Schweden ab? (lacht und wirft sein Bierglas um)

Michael Nyqvist: Da, seht! Er ist eben Däne.

Niels Arden Oplev: Da ist etwas faul im Staate… Schweden!

Michael Nyqvist: In Spanien immerhin wurde der Titel beibehalten. Dort war der Film auch am erfolgreichsten.

Niels Arden Oplev: Naja, Spanier... die nieten zum Spaß Bullen um. (lacht)

Michael Nyqvist: Ich war ja auch erst misstrauisch und schlug die Rolle aus...

Niels Arden Oplev: Zu mir hast du nie Nein gesagt!

Michael Nyqvist: ...bis wir uns in einer Bar trafen und Niels mir von seinen Ideen erzählte. Er ist ein toller Regisseur, er kann sogar Schafe zu Höchstleistungen antreiben. (grinst)

Niels Arden Oplev: Wir sind eben keine Kompromisse eingegangen. Und das hat sich rentiert. Bislang hat „Verblendung“ europaweit 85 Millionen Euro eingespielt, vermutlich knacken wir auch noch die mythische 100-Millionen-Barriere. Das ist schon sensationell.

Michael Nyqvist: Ein gutes Schlusswort! Dafür wollen wir mindestens eine Titelgeschichte.

Niels Arden Oplev: Ja, genau – „Two Men Who Hate Women” (lacht)

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