Jerichow: Christian Petzold glaubt an tragische Geschichten
Mittwoch, 7. Januar 2009 - 15:01
Berlin (dpa) - Christian Petzold ist in diesem Jahrzehnt international so bekannt geworden wie kaum ein anderer deutscher Filmregisseur. Sein Film „Yella“ bekam 2007 einen silbernen Berlinale-Bären, sein jüngstes Werk „Jerichow“ war 2008 Wettbewerbsbeitrag beim Filmfestival in Venedig.

Das Drama mit Nina Hoss in der Hauptrolle startet am 8. Januar in den Kinos. Im Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa sprach der 48-jährige Wahlberliner über die Bedeutung des Filmtitels, den Schwebezustand seiner Figuren und den Schauplatz seiner Geschichten: den Rand der Gesellschaft.

In Ihren Filmen schwingt deutliche Kapitalismus-Kritik mit. Fühlen Sie sich nun in der Finanzkrise mit diesen cineastischen Kassandra-Rufen bestätigt?

Petzold: „Das geht natürlich in meine Filme ein. Das Kino untersucht Gemeinwesen. Etwas, das im Untergrund schwelt, das baldige Platzen der Blase, das spürt das Kino auf. Nach "Yella" ging zum Beispiel die Hedge-Fonds-Diskussion los, als Müntefering von Heuschrecken sprach. Was bedeutet das, wenn 25 Prozent Rendite erwartet werden? Das ist totale Ausbeutung.“

Das klingt als Filmthema nach antikapitalistischem Polit-Kino.

Petzold: „Meine Filme sind keine politischen Filme, die das politische System angreifen, sondern sie spielen an den Rändern von Systemen und Gesellschaften, die anfangen, ihre Gefängnisse, ihr Krankenwesen und Schulen zu privatisieren. Bei der Privatisierung wird von den Menschen eine Individualität verlangt, sie gehören also nicht mehr in eine Gruppe oder Kollektiv, es heißt, "du machst das jetzt alles für dich alleine", und die Menschen sind überfordert damit. Das ist das eine große Thema: Die Überforderung durch den Neoliberalismus. Und das andere Thema ist: Es gibt gleichzeitig keine Arbeit mehr, aber da unsere Identität auf Arbeit aufbaut, stellt sich die Frage: Wie kann man, wenn man keine Arbeit hat, eine Identität bekommen?“

Warum stellen Sie die Liebe stets als unmögliches Unterfangen ohne Aussicht auf Happy End dar?

Petzold: „Ich glaube einfach, nur die Liebesgeschichte lohnt sich zu erzählen, die es nicht schafft. Das Scheitern gehört zum Kino. Das ist etwas, was das Fernsehen bis heute nicht begriffen hat - dass das Scheitern etwas mit Tragödie zu tun hat. Komischerweise will man dem Menschen um 20.15 Uhr keine Tragödie zubilligen. Es muss alles gut sein und harmonisch ausklingen. Die Arbeiter oder die Angestellten nach einem schweren Arbeitstag mit einem guten Gefühl ins Bett schicken. Dass natürlich traurige Musik, tragische Liebesgeschichten, gescheiterte Banküberfälle einem die Freude am Leben überhaupt geben, das hat das Fernsehen noch nicht verstanden.“

Jerichow ist ein Dorf in Sachsen-Anhalt, der Titel verweist aber auch auf eine der ältesten Städte der Welt, Jericho in Palästina. Wie kamen Sie auf den Filmtitel?

Petzold: „Mir gefiel das Ortsschild von Jerichow in Sachsen-Anhalt. Jerichow ist sehr klein, eher ein Dorf. Ich dachte mir, das ist so ein schönes, altes, tiefes Wort, und hier ist so eine weite Leere. Da kreuzen sich die Leere und die mythische Tiefe, da ist irgendwie Druck drin. Ich dachte aber eher an die Rose von Jericho, das ist diese vertrocknete Wüstenrose, die auch nach 50 Jahren aufblüht, wenn sie unter Wasser gerät, aufblüht. Die wird in der christlichen Mythologie als die Auferstehung Christi genutzt.“

In „Jerichow“ spielt Benno Fürmann einen Ex-Soldaten, Nina Hoss eine überschuldete Frau. Mehr verraten Sie nicht über die Vergangenheit der Figuren. Wieso lassen Sie das so in der Schwebe?

Petzold: „Bei (dem französischen Krimi-Autoren) Georges Simenon gefällt mir, dass er seine Fälle vor Gericht gefunden hat. Wenn jemand angeklagt ist, erfährt man nichts von ihm, nur Geburtsdatum und einen ganz kurzen biografischen Abriss mit Schulbildung und Wohnort und Familienstand, und dann hört man den Fall. Dann beginnt beim Zuschauer eine Assoziation und ein Nachdenken. Der Zuschauer entwirft für sich eine mögliche Biografie des Angeklagten. Das habe ich immer als Reichtum empfunden. Das weckt eine Neugierde beim Zuschauer, so soll es sein. Der Zuschauer darf nicht auf primitivste Art befriedigt und ermüdet werden.“

Wie wichtig sind Ihnen Filmfestivals?

Petzold: „Das Festival ist wie eine Messe, zum einen natürlich ökonomisch wichtig: "Jerichow" zum Beispiel hat sich sehr gut verkauft in andere Länder. Das höre ich dann nur, ich bin ja nicht an den Einnahmen beteiligt. Das heißt, der Film vertreibt sich - ich bin ja froh, wenn er gesehen wird. Intern sind sie großartig, weil man dort andere Filmschaffende trifft und mit ihnen sprechen kann, das ist immer ein toller Moment.“

Interview: Wolf von Dewitz, dpa

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