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    Der härteste Film 2019: Wie mir "Systemsprenger" den Boden unter den Füßen wegriss

    Vergesst „ES 2“ oder „Midsommar“! Wenn ihr einen Film sehen wollt, den ihr am ganzen Körper spürt und der euch auch nach Tagen keine Ruhe lässt, solltet ihr den deutschen Oscar-Film 2019 auf keinen Fall verpassen: „Systemsprenger“ ist ein Brett!

    Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

    +++ Meinung +++

    Filme entführen uns in andere Welten, in denen wir aufregende Abenteuer erleben können und sogar Spaß daran haben, uns mal richtig zu fürchten. Denn insgeheim weiß der Zuschauer: Es ist ja nur ein Film. Diese Distanz verleiht auch in den spannendsten Momenten ein gewisses Gefühl von Sicherheit – eine Sicherheit, die einem „Systemsprenger“ bereits in der ersten Szene nimmt und nicht mehr wieder gibt. Die muss man sich in den Stunden und Tagen nach dem Kinobesuch aus eigener Kraft zurückholen.

    Es gibt sie, diese Filme, die einen daran erinnern, dass es im Kino in erster Linie darum geht, eine Geschichte zu erzählen. Kein Effektgewitter, keine großen Stars, keine märchenhaften Bilder, kein episches Getöse – sondern lediglich die Geschichte eines kleinen Mädchens, das einfach nur geliebt werden will.

    Darum geht's in "Systemsprenger"

    Benni (Helena Zengel) ist neun Jahre alt und will einfach nur bei ihrer Mama (Lisa Hagmeister) sein. Die hat mit ihren anderen beiden Kindern allerdings schon genug zu tun – und hat obendrein auch noch Angst vor ihrer Tochter, die von einer Kinderwohngruppe in die nächste wechselt und immer häufiger zu Gewaltausbrüchen neigt. Als sie eines Tages Anti-Aggressionstrainer Micha (Albrecht Schuch) als Schulbegleiter zugeteilt bekommt, soll sich das Leben von Benni aber endlich zum Besseren wenden…

    Kein Film, sondern eine Erfahrung

    Das Leben mag vielleicht die schönsten, zweifelsohne aber auch die schrecklichsten Geschichten schreiben. Und genau eine solche erzählt Regisseurin Nora Fingscheidt in ihrem Film. „Systemsprenger“ ist pures Leben, das einen mit all seiner Kraft überrollt. Ohne dabei zu dick aufzutragen oder mit reaktionärem Gehabe Emotionen zu wecken, bleibt der Film stets ungeschönt, echt und so authentisch wie kein anderer, den ich Zeit meiner 30 Lebensjahre zu Gesicht bekam – und bestätigt damit, dass das Kino keineswegs zur Realitätsflucht genutzt werden muss, um seine unbändige Kraft zu entfalten.

    Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

    Warum mich „Systemsprenger“ derart aus der Fassung brachte, dass ich sogar das Abendessen nach meinem Kinobesuch absagen musste, weil ich schlicht zu nichts in der Lage gewesen wäre (und erst recht keinen Hunger hatte), ist schnell erklärt. Denn das – und es ist wirklich erschreckend, mit welcher Präzision der Film hier den Nagel auf den Kopf trifft –, was es im Film zu sehen gibt, hab' ich schon einmal erlebt. Allerdings nicht im Kinosaal, sondern in Jugendwohngruppen, in denen ich vor meiner Zeit als FILMSTARTS-Redakteur als Sozialpädagoge tätig war.

    Vom Sozialarbeiter, der sich zu Beginn eines Meetings nach einem Protokollschreiber umschaut über die Eltern, die Versprechungen machen und letztlich doch nie einhalten bis hin zu den wüstesten Beschimpfungen und Bedrohungen – all das machte „Systemsprenger“ aber nicht nur für mich, sondern auch für meine Begleitung, die mit diesem Beruf rein gar nichts zu tun hat, zu einer unvergesslichen (Grenz-)Erfahrung. 

    Horror aus dem Leben

    „Arbeite mit Kindern“, haben sie mir gesagt, „da kannst du noch was bewirken“ – wohlwissend, dass es schwieriger wird, je älter sie werden. Und dabei bloß nie die oberste Regel vergessen, die uns im ersten Semester verklickert wurde: „Eure eigene Sicherheit hat immer Priorität“ – wohlwissend, dass es im Job später mal nicht nur zu psychischen, sondern auch zu physischen Belastungen kommen wird. Aber darauf, was im Berufsalltag wirklich auf einen zukommt, kann einen keiner vorbereiten…

    Wenn ein achtjähriger Knirps barfuß ein Fenster aus Sicherheitsglas kaputttritt, dir den Tod wünscht, dir ins Gesicht spuckt und dich beißt, sodass du anhand des Gebissabdrucks am Arm eine Woche später immer noch feststellen könntest, wer hier denn so großen Hunger hatte, dass er sogar seinen Betreuer essen würde – dann ist das nichts, das man einfach so wegsteckt.

    Aber egal, denn wenige Minuten nach dem Vorfall ist eh wieder „alles in Ordnung“, wenn sich der kleine Racker, der dich eben noch in alle Einzelteile zerlegen wollte, an dich kuschelt, sich unter Tränen entschuldigt und dich anfleht, ihm eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen.

    Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

    Jene Kinder, die verdammt nochmal einfach nichts dafür können, dass sie in instabilen Verhältnissen aufwuchsen, kämpfen sich durchs Leben, ohne je ein Gespür für Nähe und Distanz, richtig oder falsch vermittelt bekommen zu haben – und durchleben eine tagtägliche Achterbahnfahrt der Gefühle, immer im Höchsttempo, bis sie irgendwann aus dem Wagen fliegen. Und direkt wieder einsteigen. Genau dieses Gefühl vermittelt auch „Systemsprenger“ mit voller Wucht.

    In den knapp zwei Stunden erlebt der Zuschauer das, was Sozialpädagogen Tag für Tag, Nacht für Nacht spüren – acht Stunden am Stück oder (eher viel, viel) länger. Wer hier nicht für seinen Beruf lebt und den Balanceakt, Privates von Beruflichem emotional zu trennen, nicht bravourös meistert, auch wenn es mal Wochen gibt, in denen man mehr Zeit mit den Kids als zuhause verbringt, fliegt irgendwann selbst aus der Bahn.

    Auf der anderen Seite gilt es gleichzeitig, stets ein offenes Ohr zu haben, Halt und Hoffnung zu geben und Trost zu spenden, wenn mal wieder alles aussichtslos scheint. Es ist ein emotionaler Kraftakt, für den es nicht nur ein dickes Fell, sondern vor allem ein großes Herz braucht.

    Darum ist "Systemsprenger" ein so wichtiger Film

    Auch heute noch werden Studiengänge wie „Soziale Arbeit“ oder „Sozialpädagogik“ oft müde belächelt. „Das muss man studieren?!“, bekommt man immer wieder zu hören, wo man doch bloß „mit Kindern spielt“. Wer ein derart falsches Bild von pädagogischer Arbeit hat, bekommt von Nora Fingscheidt die knallharte Realität präsentiert – unverblümt, roh und so gnadenlos ehrlich, dass einem der Atem stockt.

    Für mich, der – ähnlich wie Schulbegleiter Micha im Film – erst dann Grenzen zog, als es fast schon zu spät war, ist „Systemsprenger“ keine Unterhaltung, sondern vielmehr ein Abziehbild der Realität, das die Machtlosigkeit jenes Systems, das deutschlandweit jeden Tag aufs Neue gesprengt wird, deutlich macht. Denn selbst wenn man alle Willenskraft der Welt versammelt, braucht es immer auch gewisse Mittel, die aufgrund von immer größeren Sparmaßnahmen oft fehlen. „Sparmaßnahmen“ – wenn ich dieses Wort schon höre, wird mir schlecht.

    Auch Pädagogen sind nur Menschen, die in ihrer täglichen Arbeit den verschiedensten Druckfaktoren ausgesetzt sind. Einer davon: krasse Unterbezahlung! Es fehlt uns Menschen nämlich schlicht an der gewissen Weitsicht, um auch wirklich zukunftsorientiert zu handeln. Das zeigt sich nicht nur daran, wie wir unseren Planeten zurichten, sondern auch in der (mangelnden) Investition in unsere Nachkömmlinge. Wenn unsere nächste Generation das Geld schon nicht mehr wert ist, was denn bitte dann?

    Systemsprenger

    Vielleicht sollte jeder einfach mal die Erfahrung machen, einem bitterlich weinenden Mädchen, das in eine Wohngruppe mit sechs anderen gepackt wird, zu erklären, warum sie sich damit nun mal abfinden muss. Ein Mädchen, das genau benennen kann, warum sie eine Familie braucht, die sich um sie kümmert und keine Betreuer, die – salopp und aus der Sicht des Kindes gesagt – Mama-Ersatz spielen.

    Ein Mädchen, das von einer Einrichtung in die nächste verfrachtet wird, weil die behördlichen Ressourcen einfach keine anderen Möglichkeiten bieten. Ein Mädchen, dem von der eigenen Mutter immer wieder die Hoffnung gemacht wird, dass alles wieder gut wird, dass sie bald wieder vereint sein werden. Eine Mutter, die vor lauter Überforderung gar nicht weiß, wo ihr der Kopf steht, die es vielleicht gerade einmal schafft, einen von fünf angesetzten Terminen wahrzunehmen, an dem sie von ihrem Kind schließlich gottgleich verehrt wird. Bevor wieder Wochen voller Enttäuschung und Herzschmerz folgen...

    Aber nein, das wünsche ich niemandem.

    Yunus Roy Imer / Port au Prince Pictures

    Liebeserklärung und Oscar-Kandidat

    „Systemsprenger“ hat mich absolut zerstört, hat hervorgeholt, was tief in mir schlummerte und fast schon in Vergessenheit geriet, hat aufgerissen, was nahezu verheilt war – und ich danke ihm dafür. Denn er ehrt Pädagogen und Sozialarbeiter, Betreuer und Schulbegleiter als die Helden, die sie sind, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger anzukommen und ein Allheilmittel zu versprechen, das es ohnehin nicht gibt.

    Ja, wahre Helden wollen nicht gefeiert werden, wollen weder Ruhm noch Reichtum. Sie würden sich die Anerkennung niemals holen, sich nicht über die vermeintlich Hilfsbedürftigen stellen – und doch fassen sie all ihren Mut und all ihre Kraft zusammen, um der Macht- und Hoffnungslosigkeit des Systems zum Trotz dafür zu sorgen, dass letzten Endes irgendwie doch alles wieder gut wird. Oder zumindest besser.

    Ob „Systemsprenger“ letztlich den Oscar als bester fremdsprachiger Film holt oder überhaupt nominiert wird, ist absolute Nebensache. Allein durch die Entscheidung auf deutscher Seite, ihn namhafter Konkurrenz wie „Der Junge muss an die frische Luft“ oder „Der Fall Collini“ vorzuziehen, stellt klar: Dieser Film ist wichtig und geht uns alle etwas an.

    Und noch etwas Positives hat das Ganze: Von der unfassbar talentierten Hauptdarstellerin Helena Zengel werden wir in Zukunft noch viel hören! Mit Systemsprenger“ gelang der Elfjährigen nämlich gleich der Sprung nach Hollywood: In ihrem nächsten Film, Paul Greengrass‘ „News Of The World“, spielt sie bereits neben Hollywood-Größe Tom Hanks.

    „Systemsprenger“ läuft seit dem 19. September 2019 in den deutschen Kinos.

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