Als wir Mary Elizabeth Winstead am Set von „Gemini Man“ in der Kleinstadt Glennville, Georgia (in der Nähe von Savannah) in der improvisierten Kommandozentrale der Produktion in einem Pfarrhaus treffen, kommt die 34-Jährige zwischen dem Dreh von zwei Szenen in vollem Kostüm vorbei. Ihre Wange ziert eine klaffende Wunde, die natürlich nur von den Make-Up-Spezialisten aufgeklebt ist. Dennoch ist ihre Rolle in dem futuristischen Action-Thriller „Gemini Man“ von Oscarpreisträger Ang Lee („Brokeback Mountain“, „Life Of Pi“) sehr physisch. Auch darüber reden wir mit ihr.
Im Zentrum von „Gemini Man“ steht der ehemalige Regierungskiller Henry Brogan (Will Smith), der im Ruhestand plötzlich von seinem geklonten, jüngeren Ich Junior (ein digital am Computer verjüngter Will Smith) gejagt wird. Auftraggeber ist Henrys früherer Boss Clay Verris (Clive Owen). Der Gejagte muss herausfinden, warum man ihn töten will. Dabei unterstützen ihn die Agenten Danny Zakarweski (Mary Elizabeth Winstead) und Baron (Benedict Wong), die ihn eigentlich überwachen sollten.
FILMSTARTS: Du siehst nicht gut aus, Mary…
Mary Elizabeth Winstead: [ironisch] Ach ja, das sieht verwegen aus.
FILMSTARTS: Kannst du erklären, wie deine Figur Danny in diese verrückte Geschichte passt?
Mary Elizabeth Winstead: Danny ist angeheuert worden, um ein Auge auf Henry zu werfen, der als Regierungskiller in den Ruhestand geht. Sie ist Teil der DIA, der Defense Intelligence Agency. Sie weiß aber nicht genau, warum gerade sie engagiert wurde, erfüllt hier erstmal nur ihre Pflicht. Sie macht das, was ihr gesagt wird, und glaubt auch an das System und ihre Pflichten. Sie spioniert ihn aus und schaut, was er vorhat. Er bekommt das mit und konfrontiert sie damit. Nach einiger Zeit wird klar, dass jemand hinter Henry her ist. Aber die beiden wissen nicht, warum. Danny entscheidet, sich mit Henry zusammenzutun und ihn zu beschützen. Henry ist eine Legende als Scharfschütze und Attentäter, Danny hat ihn immer bewundert. Deshalb begibt sie sich auf diese verrückte Reise mit ihm.
Mary Elizabeth Winstead: “Ang Lee ist sehr genau“
FILMSTARTS: „Gemini Man“ wird in 120 Bildern pro Sekunde (fps) gedreht. Ändert das deine Herangehensweise als Schauspielerin?
Mary Elizabeth Winstead: Ein bisschen schon. Ang Lee ist sehr genau dabei, alles sehr klein und real zu halten. Ich denke, selbst wenn diese kleinen Details auf der Leinwand, die durch diese Technik sichtbar werden, nicht da wären, wäre das seine präferierte Methode, Regie zu führen. Diese neue Technik macht das genaue Arbeiten noch wichtiger. Jedes Kopfschütteln oder jeder Ausdruck, der auch nur ein bisschen drüber ist, wirkt am Ende nicht mehr authentisch. Da würden dann bei Ang Lee die Alarmglocken klingeln.
FILMSTARTS: Hast du solche Beispiele in den Dailies [Tagesmuster der Produktion] gesehen?
Mary Elizabeth Winstead: Ich schaue mir gar keine Dailies an. Das mache ich normalerweise nie. Manchmal gehe ich aber zu den Aufnahmemonitoren und schaue mir Szenen an, weil es so aufregend ist. Ich versuche aber, nicht zu sehr daran zu hängen und mich beeinflussen zu lassen.
"Gemini Man" wird nicht weniger als eine Kino-Revolution: Am Set von Ang Lees Sci-Fi-ThrillerFILMSTARTS: Wir haben schon von anderen Teammitgliedern gehört, dass es für euch Schauspieler eine archaischere Erfahrung ist als sonst. Weniger Make-up, mehr Details… Wirkt man verwundbarer?
Mary Elizabeth Winstead: Ich liebe es wirklich. Es ist toll, zu so einem großen Film zu kommen und genau das Gegenteil von dem, was man als Frau normalerweise erfährt, zu erleben. „Legt ihr so viel Make-up auf, wie möglich ist.“ Das ist hier angenehm, auf das Wesentliche konzentriert. Alles muss sehr real sein. Ang ist es sehr wichtig, dass man keine Hilfsmittel sieht, kein Make-up auf den Gesichtern. Außerdem braucht man so morgens weniger Zeit in der Maske. Das ist schön.
FILMSTARTS: Was hat dich denn an „Gemini Man“ besonders gereizt?
Mary Elizabeth Winstead: Oh, da gibt es vieles. Es ist einfach eine fantastische, seltene Gelegenheit, einen großen, spaßigen und unterhaltsamen Actionfilm zu machen, der ein Herz hat und etwas aussagt. Im Film werden Fragen nach dem Leben, dem Altern und Älterwerden gestellt, es geht um existenzielle Krisen. Dazu habe ich natürlich noch die Chance, mit Ang Lee zu arbeiten. Ich war so aufgeregt, ihn zu treffen und zum Vorsprechen zu kommen. Und jetzt darf ich mit ihm arbeiten. Die Kombination von Ang und Will Smith, die Rolle und die Dimension des Films sind furchtbar spannend für mich.
Action und Waffen: Die Klimax von “Gemini Man“
FILMSTARTS: Kannst du uns etwas über die Szene erzählen, die du gerade drehst und die wir beobachten?
Mary Elizabeth Winstead: Natürlich. Ihr habt wirklich Glück. Wir drehen jetzt die erste richtige Woche mit Action und Waffen, das was die Klimax des Films ist. Für Wills Figur Henry wird es gefährlich. Wir begeben uns auf die Flucht, wissen aber nicht, vor wem. Das ist für den Großteil des Films so, aber es wird klarer und klarer, dass wir vor unserer eigenen Organisation davonlaufen, für die wir eigentlich arbeiten. Das wirft eine Menge Fragen auf, die sich die Figuren auch über sich selbst stellen. Henry ist schon über diesen Punkt hinaus. Er ist ein bisschen abgestumpft und desillusioniert vom Leben und seiner Arbeit, während meine Figur an den alten Idealen festhält, was es bedeutet, für die Regierung und das Land zu arbeiten. Und auch den Stolz zu haben. Sie will herausfinden, was die Regierung wirklich macht und warum sie diesen unschuldigen Mann jagt. Das lässt sie alles in Frage stellen. Wir versuchen, nur noch zu überleben, während die Jäger alles daran setzen, uns zu töten.
FILMSTARTS: Das Genrekino findet sich in deiner Filmografie immer mal wieder. Was motiviert dich, diese Filme zu drehen?
Mary Elizabeth Winstead: Ich mag einfach dieses physische Spiel, das ist aufregend für mich. Ich mag Figuren, die in brenzliger Lage wissen, was zu tun ist, um zu überleben. Ich habe bisher eher Horror- und Sci-Fi-Filme gemacht und nur ein paar Actionfilme wie „Stirb langsam 4.0“ oder sowas. Aber eben nicht so viele. Dieses Action-Drama-Terrain hier ist neu für mich. Es ist wirklich erfrischend, jemanden zu spielen, der zu überleben weiß und nicht nur irgendein Love-Interest ist. Deswegen macht es mir Spaß, Genrestücke wie diese zu finden, wo es nicht so viele Genre-Stereotypen gibt, die man eigentlich erwarten würde. Das finde ich sehr befriedigend.
FILMSTARTS: Hast du einen Lieblingsfilm von Ang Lee?
Mary Elizabeth Winstead: Oh, das ist so schwierig, weil er wirklich überall seinen Fußabdruck hinterlässt. Das ist so großartig, weil er so viele Genres gemacht hat. Ich denke, „Brokeback Mountain“ ist wahrscheinlich mein Lieblings-Ang-Lee, aber ich mag wirklich alles, was er gemacht hat. „Der Eissturm“, „Tiger & Dragon“, er steht für Authentizität und Wahrheit, da spielt das Genre gar keine Rolle. Das bewundere ich.
Turbulenter Casting-Prozess
FILMSTARTS: Kannst du uns einen Einblick in den Casting-Prozess geben? Wie lief das ab?
Mary Elizabeth Winstead: Zunächst habe ich ein Tape aufgenommen. So läuft das für gewöhnlich jetzt, wenn ich für etwas vorspreche. Ich bekomme das Drehbuch und werde gebeten, ein paar Szenen auf Tape zu bannen, was ich in diesem Fall getan habe. Eigentlich denke ich darüber nicht viel nach. Danach habe ich eine ganze Weile nichts mehr gehört – bis ich mitbekam, dass Ang Lee die Probeaufnahme mochte und ich in Betracht gezogen wurde. Eines Tages, an einem Samstag, bekam ich einen Telefonanruf, dass Ang Lee mich den nächsten Tag in Savannah sehen wolle. Ich war gerade dabei, etwas in Winnipeg, Kanada zu drehen [Anm. der Red.: „The Parts You Lose“].
"Die Furcht vor dem Versagen hält dich auf Trab": Unser Interview mit "Gemini Man"-Regisseur Ang LeeDeswegen wurde es hektisch, weil wir schnell rausfinden mussten, wie wir uns treffen konnten. In Savannah oder Winnipeg? Am Ende trafen wir uns in New York, um es für mich einfacher zu machen. Bei dem Treffen haben wir ein paar Stunden zusammen verbracht, dabei einige Szenen durchgespielt. Er war wunderbar, so freundlich und nett. Er registriert jedes kleinste Detail. Den nächsten Tag hatte ich dann die Rolle. Man hört Monate nichts und dann geht alles ganz schnell. Das war großartig.
FILMSTARTS: Wie ist es denn mit Will Smith? Ist er wirklich so komisch, wie wir alle denken?
Mary Elizabeth Winstead: Ja, das ist er! Er ist der Beste. Er ist ein absoluter Profi und steckt voller Energie, offen gegenüber allen und bringt das Team permanent zum Lachen. Es sieht wirklich so aus, dass er liebt, was er macht. Er ist der beste Typ, mit dem man zusammen sein möchte, weil seine gute Laune ansteckend ist.
"Es gibt keine Referenz für unseren Film": "Gemini Man"-Interview mit Will SmithFILMSTARTS: Ist es interessant für dich zu sehen, wie Will Smith zwei Charaktere gleichzeitig spielt?
Mary Elizabeth Winstead: Ja, das ist es. Bisher hatten wir weit weniger Szenen zusammen, in der Will Junior [der Jüngere] war, dazu kommen wir erst später noch. Aber es ist erstaunlich zu sehen, wie er da zwischen den Rollen umschaltet. Er wird dann zur komplett anderen Person, er hat einen Weg für sich gefunden. Ich bin wirklich gespannt, wie das mit dieser Technologie später auf der Leinwand aussieht. Ich kenne sein Gesicht über die Jahre so gut, da wird es eine besondere Erfahrung, den 23-jährigen Will Smith wieder auf der Leinwand zu sehen. Ich kann es gar nicht abwarten.
FILMSTARTS: Bist du dir eigentlich bewusst, dass ihr auf technologischer Ebene dabei seid, Filmgeschichte zu schreiben?
Mary Elizabeth Winstead: Ich versuche, nicht zu sehr aus dieser Perspektive zu denken. Ich bin so darauf fokussiert, meinen Job gut zu erledigen und alles zu machen, was Ang verlangt. Da gibt es schon eine Menge, worüber ich nachdenken muss. Deswegen bemühe ich mich, den Technologiegedanken rauszuhalten.
„Gemini Man“ startet am 3. Oktober 2019 in den deutschen Kinos.