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    Wir gucken den 14,5 Stunden langen Kinofilm "La Flor" (aktueller Stand: nach 887 Minuten geschafft)

    Auf dem Filmfest München wird gerade das argentinische Mammutprojekt „La Flor“ gezeigt – verteilt auf drei Tage. FILMSTARTS sitzt über die komplette Laufzeit mit drin – und berichtet täglich vom aktuellen Stand der Dinge.

    Grandfilm

    Noch ist nicht abschließend geklärt, ob „La Flor“ der längste Film nur aus Argentinien (so viel ist sicher) oder sogar aus ganz Lateinamerika ist (das hängt am Ende wohl von der Art der Laufzeitmessung ab). Aber zumindest die Mitglieder von El Pampero Cine, dem Filmemacherkollektiv hinter „La Flor“, dürfte das Ergebnis dieser Diskussion sowieso am Allerwertesten vorbeigehen. Die selbstauferlegten Regeln des Kollektivs, das alle Arbeiten an seinen Filmen (inklusive Ton und Kamera) selbst ausführt, sind derart idealistisch, dass man sich ohnehin kaum vorstellen kann, dass die Mitglieder sich für so etwas Banales wie einen Längenrekord überhaupt interessieren würden.

    So hat der Film etwa bewusst keinen Weltvertrieb – und die Macher haben zudem die klare Regel, dass man ihren Film nur im Kino sehen soll. Selbst Verleiher, die „La Flor“ in ihr Programm aufnehmen wollen, bekommen deshalb keine Screener geschickt, sondern müssen notfalls nach Argentinien zu El Pampero Cine in den Schneideraum reisen, um sich den Film dort vor Ort auf der Leinwand anzusehen.

    (Nachträgliche Anmerkung/Berichtigung der Redaktion: Wie wir mittlerweile erfahren haben, gibt der deutsche Verleih Grandfilm doch Streaming-Links zu „La Flor“ an berichterstattende Journalisten heraus. Offenbar wurde die Regelung inzwischen also doch ein gutes Stück weit aufgelockert.) 

    Horrorfilm, Musical, Spionage-Thriller

    Auch die Struktur des Films entspricht nicht gerade den gängigen Sehgewohnheiten – weshalb sie der Regisseur des Films, Mariano Llinas, in einem Prolog erst einmal persönlich erklärt. Llinas sitzt in einem Park und zeichnet kleine Diagramme in seinen Notizblock, um dem Publikum den Aufbau von „La Flor“ zu verdeutlichen: Der Film besteht aus sechs Geschichten. Die ersten vier haben einen Anfang, aber kein Ende. Die fünfte hat einen Anfang und ein Ende. Die sechste fängt irgendwo in der Mitte an und führt dann alles zu einem Abschluss.

    Zudem ist jedes Kapitel in einem anderen Genre angesiedelt. Es geht los mit einem klassischen B-Movie, dann folgen ein Musical, ein Spionagefilm und ein Kapitel, dessen Inhalt sich nicht erklären lässt – nicht einmal von jenen, die den Film gemacht haben. Weiter geht es mit einer Hommage an einen alten französischen Film und zum Abschluss gibt es eine Geschichte über Frauen im 19. Jahrhundert, die gerade aus der Versklavung freigelassen wurden. In jeder der Geschichte spielen zudem dieselben vier Schauspielerinnen die Hauptrollen.

    Deshalb sei „La Flor“ zugleich auch ein Film über und für sie.

    Nach 225 Minuten

    14,5 Stunden sind auch für mich ein Rekord. Aber zumindest Filme jenseits der acht Stunden habe ich schon einige im Kino gesehen. Das war allerdings alles Slow-Cinema-Kost von den üblichen Verdächtigen wie Lav Diaz oder Wang Bing. Aber damit hat „La Flor“ absolut gar nichts zu tun. Stattdessen entpuppt sich gleich das erste Kapitel als Mumien-Horror – mit glühenden Augen, toten Katzen und einer besessenen Frau, die einen potenziellen Vergewaltiger direkt so übel zurichtet, dass er zur Rettung seiner Ehre später erzählen wird, dass vier Männer über ihn hergefallen seien.

    Die Episode ist stellenweise echt gruselig, dem grandios-verspielten Sounddesign sei Dank. Vor allem aber glänzt die Horrorgeschichte mit einem bitterbösen schwarzen Humor, der von den vier Hauptdarstellerinnen mit einer wunderbaren Trockenheit präsentiert wird. Und dann ist plötzlich Schluss – schon ziemlich überraschend, selbst wenn wir bereits gewarnt wurden, dass es kein Ende geben wird. Der Mumien-Exorzismus-Stoff ist dabei für sich schon ziemlich super …

    Ein Musical mit giftigen Skorpionen

    … aber so langsam zu durchschauen beginnt man das Konzept erst in der zweiten Episode, die von einem zerstrittenen Schlagerpärchen erzählt, das nun doch noch einmal einen gemeinsamen Song aufnehmen muss, weil die getrennten Aufnahmen einfach nicht hingehauen haben. Das klingt kitschig, ist in seiner Dekonstruktion der nach und nach aufgedeckten, absolut überraschenden Machtverhältnisse innerhalb der Beziehung aber vor allem erstaunlich brutal und auf eine vollkommen rohe Weise romantisch.

    Aber die Machtverhältnisse verschieben sich nicht nur innerhalb der Schlagerstar-Beziehung – sondern auch zwischen den Schauspielerinnen: Die völlig überforderte, duckmäuserische Forschungslabor-Assistentin aus dem ersten Teil taucht nun plötzlich als eine Art eiskalte Mafia-Patin mit schwarzer Sonnenbrille auf. Die Schauspielerinnen reiben sich so nicht nur aneinander, sondern zugleich auch immer an ihren vorherigen (und vermutlich) späteren Rollen. Schon nach zwei von sechs Geschichten ein unendlich faszinierendes Experiment.

    Als ob das nicht noch genug Ebenen wären, schleicht sich zusehend auch noch ein B-Plot in die Saga des Sängerpärchens – schließlich soll in den 14,5 Stunden die Geschichte des Genrekinos offenbar nicht nur komplett aufgerollt und referenziert, sondern am besten direkt gleich vollkommen neu erfunden werden. Und warum auch nicht? So stellt sich jedenfalls heraus, dass die persönliche Assistentin der Sängerin früher mal was mit einem Kult zu tun hatte, der mit Hilfe tierischer Gifte nach dem ewigen Leben strebt. Es hat nur ein ausgestorben geglaubter Skorpion gefehlt – von dem aber nun offenbar doch noch ein Exemplar aufgetaucht ist.

    Update: Nach 567 Minuten

    Ein blonder Typ mit Sonnenbrille, lässiger Fluppe im Mundwinkel und geschulterter Maschinenpistole schlendert von links nach rechts und von rechts nach links an der Kamera vorbei – ganz so, wie man sich Schergen in alten B-Movies (und in 007-Abenteuern wohl selbst heute noch) eben so vorstellt. Hinter ihm erstreckt sich ein Feld aus gelben Blumen, in dem es immer, wenn er gerade nicht hinsieht, zu rascheln beginnt – wie in der Raptoren-Szene aus „Jurassic Park“ kommen die sich bewegenden Blumen in Sternenform immer näher, bis sich plötzlich eine Frau in schwarzer Tarnkleidung erhebt und dem unachtsamen Typen drei Messer in den Rücken wirft.

    Der zweite Teil von „La Flor“, für sich allein stolze 342 Minuten lang, besteht ausschließlich aus der dritten und mit Abstand längsten der sechs Geschichten – ein fast sechsstündiger Spionagefilm also. Die ersten 95 Minuten sind dabei erst mal urkomisch – als hätte Quentin Tarantino eine seiner typischen Meta-Hommagen gedreht, nur eben über das Spionagekino der Achtziger statt über den Spaghettiwestern. Eigentlich kreist der vermeintlich simple Plot nur um zwei Spioninnen-Quartetts, die von einem Strippenzieher in Brüssel irgendwo in der südamerikanischen Einöde aufeinandergehetzt werden. Aber das wird hier mit so viel trockenem Humor, Zeitsprüngen und Perspektivverschiebungen präsentiert, dass man kaum anders kann, als an die postmodernen Kinorevolutionen des „Pulp Fiction“-Regisseurs zu denken - nur reichen die Genrebezüge in „La Flor“ sogar noch sehr viel tiefer und damit weit über Tarantinos oft eben auch ein wenig oberflächlichen Zitate-Wahn hinaus.

    Spionage hoch vier

    Aber das ist noch längst nicht alles. Die folgenden vier Stunden bestehen dann nämlich zum größten Teil aus Rückblenden, in denen jeweils die Vorgeschichte einer der Figuren der vier Hauptdarstellerinnen enthüllt wird: Eine hat für die DDR einen Londoner Politiker ausspioniert, eine stand einer südamerikanischen Rebellenfraktion vor, eine hat als internationale Assassine Dutzende Auftragsmorde begangen und die letzte war gar eine der hochrangigsten Spioninnen der Sowjetunion.

    Der Humor und ein gewisser parodistischer Ton bleiben zwar auch in diesen Unterkapiteln erhalten, aber zugleich funktionieren die Kapitel auch emotional auf unterschiedlichen Ebenen ganz hervorragend: Die Assassinen-Saga erweist sich zugleich als eine traurig-berührende Liebesgeschichte, während die russische Agentin sich so tief in die Hatz nach einem Maulwurf stürzt, dass sie schließlich jahrelang einfach nur noch in Zügen durch Sibirien fährt, um ihn womöglich durch puren Zufall an einem der Bahnhöfe doch noch anzutreffen. Ein zutiefst melancholischer Abgesang auf die sich ihrem Ende nähernde Sowjetunion - mit einer Protagonistin, die in ihrer tiefen Tragik fast schon an Kapitän Ahab aus „Moby-Dick“ erinnert.

    Der zweite Teil von „La Flor“ ist nicht in jeder einzelnen seiner 342 Minuten der spannendste Spionagefilm, den ich jemals gesehen habe. Aber mit all seinen etlichen sich überlagernden Themen, seinen einmal mehr grandiosen Darstellerinnen und seiner – angesichts der schieren Ausmaße des Projekts – unglaublich präzisen Inszenierung ist es auf jeden Fall einer der besten (wenn nicht gar der beste). Nicht schlecht für eine von sechs Episoden aus einem solchen Mammutprojekt – und zwar eine, die natürlich auch wieder ohne ein Ende daherkommt.

    2. Update: Nach 887 Minuten (fertig)

    Die vierte Episode, die sich laut Regisseur ja nicht erklären lässt, beginnt als clevere, vielschichtige (Meta-)Satire über einen Filmdreh. Dabei geht es zwar um ein Projekt namens „The Spider“, aber trotzdem wird hier sehr offensichtlich auf „The Flor“ selbst abgezielt. Der Regisseur verzweifelt nach sechs Jahren Drehzeit zunehmend an seinen Hauptdarstellerinnen und filmt deshalb stattdessen seit einem Jahr nur noch Bäume – zumindest, bis er auch an dieser Aufgabe langsam zerbricht. Wir sehen, wie er nach den passenden Trompetenbäumen und den dazu passenden Einstellungen sucht, ohne wirklich weiterzukommen. Stattdessen schiebt sich zunehmen erneut ein klassischer B-Movie-Plot mit in die Geschichte – mitsamt rachsüchtigen Hexen, übergriffigen Bäumen und einem völlig unerwarteten Abstecher ins Hogwarts-Universum. Die Episode ist auf dermaßen vielen Ebenen selbstreferenziell, dass man irgendwann einen Knoten im Hirn zu bekommen droht – wobei man sich den dann ja zum Glück gleich eh wieder rauslachen kann.

    Nach der ersten Pause des Tages erwartet man dann eigentlich die fünfte Episode – aber stattdessen geht es noch mal 90 Minuten mit den Bäumen weiter: Einem Experten für paranormale Phänomene ist das Drehtagebuch von „The Spider“ in die Hände gefallen – und er muss anhand der Notizen des Regisseurs nun herausbekommen, was genau da passiert ist (schließlich sind die Crewmitglieder allesamt dem Wahnsinn anheimgefallen und können selbst keine Auskunft mehr geben). Es geht also noch tiefer hinein in die (vielleicht zumindest zum Teil sogar ernstgemeinte) Selbstanalyse – bis hin zu einem längeren Abstecher zurück zu den historischen Abenteuern des Frauenhelds Casanova. „Akte X“ trifft David Lynch, angereichert mit viel trockenem Humor und einer bis ins kleinste Detail brillanten Komposition. Auch nach mehr als zwälf Stunden überrascht einen „The Flor“ noch immer in jeder einzelnen Szene.

    Frisch aus der Hexenküche

    Mit der fünften (ein Schwarz-Weiß-Stummfilm-Remake von Jean Renoirs „Eine Landpartie“) und sechsten Episode (eine Stummfilm-Reminiszenz mit einem vor die Linse gehaltenen Tuch, das den Bildern eine gesplitterte Kontur wie bei einem alten Gemälde verleiht) lässt „La Flor“ dann das B-Kino hinter sich, um ganz zu den Anfängen des Kinos zurückzukehren. Und das macht ja auch Sinn: Schließlich scheinen in diesen 14,5 Stunden plötzlich wieder all die Versprechungen der Anfangstage des Mediums greifbar, als hätten die Lumière-Brüder ihren Kinematograph erst am Tag zuvor das erste Mal öffentlich vorgestellt. Man fühlt sich als Zuschauer zunehmend wie in einem Labor oder besser: einer Hexenküche, in der das Kino gerade erst (wieder-)erfunden wird. Ja, das ist auch im Jahr 2019 offensichtlich noch möglich.

    Fazit: 5 Sterne - aber sowas von! Eine der rundherum spannendsten, lustigsten, überraschendsten, faszinierendsten, anregendsten Kinoerfahrungen meines Lebens. Lohnenswerter kann man 14,5 Stunden kaum verbringen – zumal sich am Ende selbst noch der etwa 40-minütige Abspann als weiteres kleines Meisterstück entpuppt.

    Die offizielle FILMSTARTS-Kritik folgt dann in den nächsten Tagen nicht von mir, sondern von unserem Autor Lucas Barwenczik (auch, um noch eine weitere Perspektive auf dieses so vielschichtige Werk mit reinzubringen, schließlich könnte man sich eigentlich endlos über die möglichen Lesarten von „La Flor“ auslassen).

    Und für alle, die selbst neugierig geworden sind: „La Flor“ läuft kommende Woche noch einmal an drei Abenden beim Filmfest München und startet am 25. Juli 2019 sogar regulär in den deutschen Kinos. Dann werden wohl eine ganze Reihe kommunaler oder mutiger Kinos den Film in verschiedenen „Stückelungen“ vorführen. Wir können euch nach dem bisher Gesehenen jedenfalls nur raten: Bekämpft euren inneren Schweinehund und traut euch!

     

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