Lisbeth Salander steht in einem dunklen, verfallenen Raum und braucht ganz dringend eine Gasmaske. Giftige Schwaden wabern durch das alte Badezimmer, die Deckenbeleuchtung flackert. Die Hackerin ist nicht alleine: Killer haben sich vor ihr aufgebaut. Sie sind ganz in Schwarz gekleidet und tragen rot leuchtende Masken, die im Dunst glühen wie Nebelkerzen und hinter denen die Gesichter nur schemenhaft durchschimmern. Lisbeth haut einen der Männer um, schnappt sich seine Maske – und als jemand im folgenden Kampf wieder und wieder gegen die Wand knallt, ist der Aufprall so laut, dass wir Journalisten im Studio Babelsberg ihn selbst in unserem Zelt hören, das ein wenig abseits des Drehs aufgebaut wurde. Dort beobachten wir auf drei Monitoren ohne Ton, wie Fede Alvarez „Verschwörung“ dreht, die neueste Adaption eines Millennium-Romans. Der „Don’t Breathe“-Regisseur arbeitet an einem Voll-in-die-Fresse-Thriller, der actionreicher ist als die anderen Verfilmungen – aber mindestens genauso grimmig und kühl.
„Anfang Januar ist die Grippe durch unsere Produktion gepflügt“, begrüßt uns der Ausführende Produzent Robert J. „Bob“ Dohrmann ein paar Stunden vorher, bevor es zu den Monitoren ins Zelt geht. Die Ausläufer der ungewöhnlich harten Krankheitswelle zum Jahreswechsel 2017/2018 sind auch Anfang April noch zu spüren, an diesem Drehtag am Ende der insgesamt gut 60-tägigen Sony-Produktion: Denn Bob Dohrmann ist nur als Vertretung für Produzentin Elizabeth Cantillon eingesprungen. Die wollte uns eigentlich in Empfang nehmen, bis auch sie von der Grippe erwischt wurde. Ein kalter, dunkler, grauer Winter liegt hinter der „Verschwörung“-Crew, die den Großteil des Films in den Babelsberger Studios und dem benachbarten Berlin drehte, auch wenn die Handlung in Schweden angesiedelt ist. Die virenreichen Wintermonate, sagt der Ausführende Produzent Dohrmann, passen aber gut zum Film. Er verspricht eine „schwedische Interpretation“: Die Verfilmung des vierten Millennium-Romans wird trostlos, blutig und kalt.
Dieser Film gehört Lisbeth
Die Buchvorlage, die im schwedischen Original „Det som inte dödar oss“ (Was uns nicht tötet) und im Englischen „The Girl in the Spider’s Web“ heißt, stammt nicht mehr vom 2004 verstorbenen Stieg Larsson, der mit den bereits verfilmten drei Büchern seiner Millennium-Trilogie Welterfolge landete. Die Fortsetzung wurde stattdessen von Journalist und Autor David Lagercrantz geschrieben, der dazu die Erlaubnis der Larsson-Erben bekam. Als ich im Eingangsbereich von Babelsberg stehe, habe ich Lagercrantz‘ Roman noch frisch im Kopf: Ein Computergenie flüchtet mit brisanten Informationen nach Schweden und gerät dort ins Visier eines Killers. Der Journalist Mikael Blomkvist und die Hackerin Lisbeth werden in die Geschichte verwickelt. Im Buch gibt es mindestens drei zentrale Figuren, während Salander und Blomkvist in den bisherigen Verfilmungen etwa gleich wichtig für die Handlung waren. Der neue Film aber, das betont Produzent Bob Dohrmann, gehört Lisbeth: „Das ist die Geschichte einer Heldin.“
Sony will in „Verschwörung“ eine starke Protagonistin zeigen, wie der Produzent immer wieder unterstreicht: „Nicht Blomkvist gibt den Ton an, sondern Lisbeth.“ Und dafür wird die Figur gleichsam neu erfunden. Noomi Rapace hatte sie in den skandinavischen Erstverfilmungen von „Verblendung“, „Verdammnis“ und „Vergebung“ als abgebrühten Bad-Ass-Racheengel gespielt, Rooney Maras Version von Lisbeth in David Finchers Remake von „Verblendung“ war dagegen introvertierter und verletzlicher (genial, gerechtigkeitsliebend und labil waren natürlich beide). Doch wie macht es nun Claire Foy in „Verschwörung“?
Einen ersten Eindruck von der neuen Lisbeth bekommen wir, als wir am Set in Babelsberg die Person besuchen, die den Look der Heldin bestimmt: Kostümdesigner Carlos Rosario, der bereits die Schauspieler in Fede Alvarez‘ Home-Invasion-Thriller „Don’t Breathe“ einkleidete, zeigt uns ihr neues Outfit:
„Alle waren nervös“, beschreibt Carlos Rosario die Stimmung der Beteiligten, als es darum ging, die Hackerin in eine neue schwarze Kluft zu kleiden. Einig war man sich darin, dass sich Lisbeth nicht hinter ihrem Look verstecken soll (so wie sie es in den Gerichtsszenen des dritten Teils „Vergebung“ tut, wo sie als Goth-Punkerin mit Nieten, fettem Makeup und Irokesenschnitt sitzt). Und weil Lisbeth nun mal die ganze Zeit mit dem Motorrad unterwegs ist, trägt sie im neuen Film die eher schlichte, schwarze, praktische Bikerkleidung. Die Lisbeth aus „Verschwörung“ ist zehn Jahre älter als in der Millennium-Trilogie – und inzwischen eher pragmatisch als punkig.
Nach ihrem Vater, dem Agenten und Kriminellen Zalachenko, und ihrem Halbbruder, dem Killer Ronald Neidermann, lernen wir in „Verschwörung“ ein weiteres Mitglied aus Lisbeths gestörter Familie kennen: ihre Zwillingsschwester Camilla (gespielt von „Blade Runner 2049“-Killerin Sylvia Hoeks). Die beiden Frauen könnten gegensätzlicher kaum sein, das wird auf den allerersten Blick klar: Hier die verschlossene, schwarzgekleidete Lisbeth – da die verführerische Camilla in Knallrot. Im Film werden wir Camilla zuerst von hinten sehen, in einem sexy Kleid mit großem Rückenausschnitt, der bis zum Po geht (das Kleid ist auf dem Bild oben immerhin zu erahnen). Kostümdesigner Carlos Rosario redet nicht lange drum herum: Es soll so wirken, als sei Camilla nackt. Wenn sie etwas später im Film tatsächlich ausgezogen wird, braucht es dazu nur einen simplen Handgriff – „und in nur einer Sekunde fällt das Kleid auf den Boden.“
Heiß!
„Verschwörung“ soll kein subtiler Krimi werden. Die Signalfarbe Rot, am deutlichsten an Camilla zu sehen und in der eingangs geschilderten Szene mit den blutig leuchtenden Gasmasken, spielt im gesamten Film eine prominente Rolle. Sie sorgt für Hitze in einem ansonsten äußerlich kalten Film – und verbindet die Figuren wie das „Spider’s Web“, das Spinnennetz, aus dem englischen Titel. Lisbeth trägt rote Piercings, ihre Loverin Sophia ein rotes Armkettchen zu ihrer Gothic-Kluft. Apropos Verbindung: Das aus den Büchern und anderen Filmen bekannte, unkomplizierte Dreiecksverhältnis zwischen Lisbeth, Journalistenlegende Mikael Blomkvist (Sverrir Gudnason aus „Borg McEnroe“) und „Millennium“-Chefredakteurin Erika Berger (diesmal gespielt von Vicky Krieps aus „Der seidene Faden“) wird auch in „Verschwörung“ gepflegt. Lisbeth schläft mit Blomkvist, Blomkvist schläft mit Erika und Erika außerdem noch mit ihrem Mann.
Frischer Ansatz
Im Kino waren Lisbeth und die Millennium-Redaktion zuletzt 2011 zu sehen, in David Finchers Verfilmung des ersten Stieg-Larsson-Buchs. Der Plan war damals, auch das zweite und dritte Buch mit Rooney Mara und Daniel Craig (als Journalist Mikael Blomkvist) in den Hauptrollen neu zu verfilmen. Aber Finchers „The Girl with the Dragon Tattoo“ (so der englische Filmtitel) wurde für Sony nicht der erhoffte Hit. Nachdem die Sequels jahrelang auf sich warten ließen, hat das Studio den für seine Horrorfilme bekannten Fede Alvarez verpflichtet, der sich mit komplett neuer Besetzung ans Werk machte – und die Bücher zwei und drei einfach übersprang. Aber warum eigentlich?
„David Finchers Film ist ein sehr ikonischer Blick auf Salander und Blomkvist“, sagt mir Dohrmann am Set auf Nachfrage. Sony wollte Abgrenzung, von Finchers Version genauso wie von der skandinavischen Trilogie. Daher wurde entschieden, dass es für den frischen Ansatz am besten sei, ein frisches Buch zu adaptieren. „Verschwörung“ soll eigenständig sein. Und sollte der Film einschlagen, wird Lisbeths Geschichte weitergehen. Sony schaue dazu laut Dohrmann aufs ganze Millennium-Bücherregal mit Ausnahme des ersten Romans: David Lagercrantz‘ fünftes und das noch nicht veröffentlichte sechste Buch kommen demnach ebenso infrage wie neue Adaptionen von „Verdammnis“ (Teil zwei) und „Vergebung“ (Teil drei).
Bevor ihr auf FILMSTARTS in den nächsten Tagen Set-Interviews mit den beteiligten Stars lesen könnt, erfahrt ihr auf den folgenden Seiten Gründe, warum wir so richtig Lust auf den Neustart der Millennium-Reihe bekommen haben…
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