Während unseres Besuchs am New-Yorker-Set des Action-Thrillers „John Wick“ im Dezember 2013 (--> zum ausführlichen Setbericht) treffen wir den entspannten Actionhelden Keanu Reeves im Anschluss an einen intensives Parkplatz-Shootout in einer nahegelegenen verlassenen Bank, die im Film als Set für eine Kirche dient, in der John Wick das Versteck eines Mafiabosses plündert. Es ist eiskalt und während sich die Journalisten über die herbeigebrachten heißen Getränke freuen, scheint Reeves die Kälte gar nichts auszumachen. Stattdessen berichtet er auskunftsfreudig, aber auch sehr konzentriert vom bisherigen Dreh und wie man auch mit 50 noch selbst die physisch anspruchsvollsten Action-Szenen meistert!
FILMSTARTS: In der Szene gerade musstest du deine Pistole schnell in die Halterung stecken, die Munition wechseln und so weiter. Das klingt auf der Drehbuchseite wahrscheinlich einfacher, als es in Wirklichkeit ist… gerade in der Geschwindigkeit und bei dem kalten Wetter heute?
Keanu Reeves: In der Szene heute jagt John Wick einen Gangsterboss namens Viggo. Ich suche eigentlich nach seinem Sohn, muss dazu aber erst seinem Vater folgen und alle seine Schergen töten. Weil wir hier in New York drehen, darf ich meine Waffe wegen der Bestimmungen hier nicht mit zum Training nach Hause nehmen, ich übe also täglich am Set, um das alles auch unter diesen erschwerten Bedingungen gut hinzubekommen.
FILMSTARTS: Wie war das Training mit der Waffe? Produzent Basil Iwanyk hat uns verraten, dass du schon im Juni damit angefangen hast…
Keanu Reeves: Ja, ich spiele immerhin einen Auftragskiller. Einige Erfahrung im Umgang mit Waffen hatte ich noch aus anderen Filmen, aber jeder Charakter hat seine ganz eigene Art und Weise, mit einer Waffe umzugehen. Ich habe mit einem Mitglied der SWAT-Einheit des LAPD trainiert. Zusätzlich arbeite ich mit einem Armeespezialisten. So kann ich als John nun unterschiedliche Waffen-Techniken und -Taktiken im Film anwenden. Nur eine bessere Halterung wäre toll. (lacht) Es hat aber auch echt viel Spaß gemacht.
FILMSTARTS: Wir haben gehört, dass du das Drehbuch sehr schnell gelesen und dich sofort für den Film verpflichtet hast. Was genau hat dich an dem Projekt gereizt?
Keanu Reeves: Das Drehbuch selbst. Ich verkörpere einen Auftragskiller, der aus Liebe heiratet und seine Vergangenheit hinter sich lässt. Er begräbt seine Vergangenheit wortwörtlich in Form seiner Waffen. Der Film thematisiert und spielt mit unterschiedlichen Welten: Da gibt es die oberirdische Welt, die normale Welt und die Unterwelt. Im Film stirbt meine Frau an einer Krankheit und hinterlässt sie mir einen Hund. Und damit sagt sie mir, dass ich etwas oder jemanden brauche, den ich lieben kann. Im Verlauf des Filmes treffe ich auf einen Typen, gespielt von Alfie Allen. Er und seine zwei Gefolgsleute stehlen mein Auto und töten meinen Hund. Damit wird John Wick die Möglichkeit genommen, in Gesellschaft zu trauern. Also nimmt er sich einen Vorschlaghammer und hämmert seine Vergangenheit frei. Viele Charaktere wie etwa der von Ian McShane probieren auf John einzureden und fragen ihn regelmäßig, ob er das wirklich tun will. Es geht um Schicksal, die dunkle Seite und Trauer. Das alles hat mich sehr interessiert und zu dem Projekt hingezogen.
FILMSTARTS: Die gefährlichsten Rache-Charaktere sind immer diejenigen, die nichts mehr zu verlieren haben. Hat John Wick noch etwas zu verlieren?
Keanu Reeves: Die simpelste, aber zugleich auch mit Tiefgang besetzte Antwort auf diese Frage lautet: Ja, seine Seele! Er hat ja immerhin seine Vergangenheit begraben, seine gemeinsame Killer-Vergangenheit mit dem Charakter von Michael Nyqvists, den Wick im Film als den „Boogeyman“ bezeichnet. Ab dem Moment, wo sich John für die Rückkehr in sein altes Leben entscheidet, reflektiert er nicht mehr, wie düster seine Handlungen sind. Es gibt einen Moment, in dem er sich ein Video von seiner auf ihn wartenden Frau anschaut. Genau dieser Moment zeigt das Gute in John und wenn er das nicht wiederfindet, wird er sich zwangsläufig in einer düsteren, von Tod dominierten Welt verlieren.
FILMSTARTS: In diesem Film sympathisiert der Zuschauer mit deiner Figur. Das ist interessant, immerhin spielst du einen kaltblütigen Killer…
Keanu Reeves: Ja, es ist definitiv eine Geschichte, die das Wertesystem des Alten Testaments neu aufrollt. In den letzten Szenen bewegt sie sich dann eher auf das Neue Testament zu. Aber es ist keine einfache Rachegeschichte. Es geht darum, sich etwas zurückzuholen, das dir genommen wurde. Und John Wick ist da halt ein wenig extremer als andere. (lacht)
FILMSTARTS: Nachdem du jetzt mit „Man of Tai Chi“ deinen ersten Film als Regisseur gedreht hast, siehst du bestimmte Sachen am Set bestimmt mit anderen Augen, oder?
Keanu Reeves: Ja, absolut. Nicht nur am Set, sondern auch bei allem drum herum. Ich habe und möchte jetzt beim Dreh auf keinen Fall die Regiekappe aufhaben, aber gerade wenn es um Vor- und Nachproduktion geht, probiere ich zu helfen, wo ich kann.
FILMSTARTS: Du hast schon vorher mit David Leitch und Chad Stahelskials zusammengearbeitet, sie waren nämlich Stunt-Koordinatoren bei „Matrix“. Was macht die beiden deiner Meinung nach zu guten Regisseuren? Wie ist ihnen der Übergang von der Stuntarbeit zu Regie gelungen? Und wie hilfreich war es, die beiden schon zu kennen?
Keanu Reeves: Ja, ich hab ihre Arbeit beobachtet. Ich hab Chad Stahelski am Set von „Matrix“ als mein Stunt-Double kennengelernt und habe mit ihm zusammen an allen drei Teilen gearbeitet. Dann habe ich auch mit David Leitch an diesen Filmen gearbeitet. Die beiden haben danach eine Firma namens 80711 gegründet, die sich auf Action-Design konzentriert. Anschließend haben sie weiterhin viel im Second-Unit-Bereich für Action-Filme gedreht. Also hatte ich sowieso schon großes Vertrauen in ihr Können in Bezug auf das Action-Genre. Ihr Umgang mit dem Drehbuch und den Charakteren war ebenfalls sehr kreativ. Als Regisseure sind sie äußerst aufmerksam und arbeiten als Einheit. In jeder Hinsicht waren sie großartig.
FILMSTARTS: Bezüglich der Action bist du ja nicht gerade neu im Geschäft und mit dem Genre sehr vertraut. Gibt es da immer noch Momente, die auch bei dir für einen erhöhten Adrenalinausschuss sorgen?
Keanu Reeves: Ja, in Bezug auf Action musste ich diesmal definitiv mehr tun, als nur den Umgang mit der Waffe meistern. Die Regisseure drehen sehr lange Takes, in denen ich unter anderem Judo- und Jiu-Jitsu-Griffe anwenden musste. Das waren sehr coole Sachen, mit denen ich noch nicht allzu viel Erfahrung hatte. In Bezug auf den Adrenalinpegel… da gab es schon ein Paar Szenen, in denen es „Los, Los, Action!“ hieß. Darunter auch die Szene, bei der ihr heute zugucken konntet. Das waren schon intensive Filmkämpfe.
FILMSTARTS: Fällt diese Arbeit körperlich immer noch so einfach wie früher?
Keanu Reeves: Sie ist mir nie leicht gefallen.
FILMSTARTS: Wir meinen im Vergleich zu damals…
Keanu Reeves: Naja, meine Knie sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Aber mit Erfahrung kommt Effizienz. Also bin ich nun wesentlich effizienter. (lacht)
FILMSTARTS: Der Produzent hat vorhin den Begriff „Car Porn“ gebraucht. Der Begriff „Gun Porn“ fiel auch. Der Film wird also vor allen Dingen Leute ansprechen, die in derartige Sachen vernarrt sind. Wie ist deine Beziehung zu Autos? Könntest du auch so verrückt nach einem Auto sein, wie die Charaktere in diesem Film?
Keanu Reeves: Ja, ich habe auch schon ab und an eine Begeisterung für gewisse Objekte. Vor allem Motorräder.
FILMSTARTS: Du hast dein Interesse an den Hintergründen und Wendungen von John Wick bekundet. Wärst du an einem oder mehreren Sequels interessiert?
Keanu Reeves: Das kommt ganz darauf an, wie der Film endet. Es gibt mehrere Enden. Ich könnte ja auch sterben. Aber ja, ich habe es sehr genossen, diese Figur zu verkörpern.
FILMSTARTS: Ein Prequel also?
Keanu Reeves: Ja, „John Wick – The Beginning“. (lacht) Aber im Ernst, wenn man sich dazu entschließen würde, an einem weiteren Film zu arbeiten, wäre ich nicht abgeneigt, erneut in die Rolle zu schlüpfen. Hoffentlich mit denselben Regisseuren.