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    Macht, Intrigen und Gänsehaut-Performances: Einen der besten Filme des Jahres gibt’s jetzt neu im Heimkino
    Sidney Schering
    Sidney Schering
    -Freier Autor und Kritiker
    Er findet Streaming zwar praktisch, eine echte Sammlung kann es für ihn aber nicht ersetzen: Was im eigenen Regal steht, ist sicher vor Internet-Blackouts, auslaufenden Lizenzverträgen und nachträglichen Schnitten.

    Eine beklemmende Atmosphäre, überwältigende Dialoge und eine echte Tour-de-Force-Darbietung von Cate Blanchett: Das Drama „Tár“ ist nervenaufreibender als viele Thriller und eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Kunst, Macht und Verantwortung.

    Was lange währte, wurde brillant: Geschlagene 16 Jahre nach seinem zweiten Spielfilm brachte „In The Bedroom“- und „Little Children“-Macher Todd Field seine dritte Regiearbeit im März 2023 auch in Deutschland ins Kino. Und das Werk hat es in sich! Der in den USA bereits 2022 gestartete „Tár“ wurde von der Filmpresse gefeiert (FILMSTARTS-Kritiker Björn Becher vergab beispielsweise ausgezeichnete vier Sterne) und erhielt stolze sechs Oscar-Nominierungen – darunter als bester Film. Die meisten Lorbeeren erhielt jedoch Cate Blanchett.

    Vielfach wurde ihre Darbietung in „Tár“ als Karrierehoch bezeichnet. Auch für den Verfasser dieser Zeilen ist „Tár“ Blanchetts Bestleistung – und das fesselnde Drama sogar einer seiner drei Lieblingsfilme des bisherigen Jahres. Überzeugt euch selbst: Seit wenigen Tagen ist „Tár“ im Heimkino erhältlich.

    "Tár": Echter als viele wahre Geschichten

    Dirigentin und Komponistin Lydia Tár (Cate Blanchett) hat praktisch alles erreicht: Sie gewann einen Oscar, einen Emmy, einen Grammy und einen Tony, gilt als Vorreiterin und ist die Chefdirigentin der angesehenen Berliner Philharmoniker. Als nächstes will sie Gustav Mahlers 5. Sinfonie aufnehmen und aufführen – damit würde ihr ein weiterer Meilenstein gelingen: Dann ist sie der erste Mensch der Welt, der mit einem großen Orchester Mahlers kompletten Zyklus abgearbeitet hat.

    Doch während der Proben gerät Társ Ehe mit Sharon Goodnow (Nina Hoss), ihrer Konzertmeisterin, ins Trudeln. Zudem rutscht Tár nach dem Selbstmord einer von ihr einst geförderten, dann rüde fallen gelassenen Musikerin in eine Sinnkrise. Und schlussendlich verliert Tár die Arbeiten an Mahlers 5. Sinfonie sowie an ihrer nächsten Eigenkomposition aus dem Blick – stattdessen wirft sie ein Auge auf die junge Cellistin Olga Metkina (Sophie Kauer)...

    Einer der kontroversesten Filme der 2000er-Jahre - basierend auf einer wahren Geschichte

    Obwohl Lydia Tár fiktiv ist, wirkt sie lebensechter und glaubhafter als zahlreiche reale Persönlichkeiten, wenn sie in Biopics dargestellt werden. Das ist zu gleichen Teilen Fields Drehbuch zu verdanken wie Blanchetts unfassbar starker Performance sowie den mit ihr mithaltenden Nebendarsteller*innen: Gemeinsam formen sie ein nuanciertes, komplexes und hochgradig paradoxes Bild der Titelfigur.

    Lydia Tár ist überlebensgroß – sie wird innerhalb weniger Filmminuten zur Ikone hochstilisiert, zu einer vom Alltag entrückten Künstlerin, die sich in keiner Lebenslage um Konventionen scheren muss. Zugleich rückt Field in seiner Erzählung dermaßen nah an seine Hauptfigur, die von Blanchett wiederum so filigran gespielt wird, dass sich genauso rasch ein Gefühl einstellt, diese fiktive Persönlichkeit bereits ein Leben persönlich lang zu kennen.

    Egal, ob Társ Augen während eines ihr banal vorkommenden Arbeitsgespräch allmählich glasig werden, oder sie ein ihre Tochter mobbendes Kind lediglich mit ihren Blicken zusammenstaucht, als wäre es ihr Todfeind: Blanchetts Mimik und Gestik sind derart vehement, intuitiv und stringent, dass sie völlig in ihrer Rolle verschwindet.

    Diese Präsenz ist von derart wuchtiger Wirkung, dass es selbst ohne die hypnotisierenden, minutiös konstruierten Dialoge möglich wäre, ein Psychogramm Lydia Társ zu erstellen. Das allein übt große Faszination aus. Doch dann nimmt Field diese widerborstige Protagonistin, die ebenso belesen wie verlogen ist, und schubst sie in eine bewusst immer diffuser werdende Abfolge von Ereignissen!

    Ein Wirbelsturm der Fehltritte

    Nach einem Aufakt, der zunächst wie der zurückhaltende, dokumentarische Einblick in das Arbeits- und Privatleben einer Meisterdirigentin anmutet, zeigt sich sukzessive, dass Field nur alle Elemente in Position gebracht hat, um dieses eingefahrene, fiktive Leben aus seinen Angeln zu heben: Tár, die sich arbeitsbedingt als Herrscherin des Takts sieht, führt vor, keinerlei Taktgefühl zu haben.

    Etwa, wenn sie bei einer Vorlesung eine passionierte Ansprache über die Bedeutsamkeit hält, sich mit Kunst auseinanderzusetzen, die von Menschen stammt, mit denen man nichts gemein hat – diese Leidenschaft aber höchst missverständlich äußert. Oder wenn sie nicht weiter ihrer Gattin eine Sonderbehandlung zukommen lässt, sondern einem neuen, jungen Blickfang innerhalb des Orchesters. Oder wenn sie besagtem, weiblichen Blickfang den Eindruck verschafft, mehr an dessen Äußeren interessiert zu sein als am Talent...

    Je weiter Tár außer Takt gerät, desto diffuser, tonal wankelmütiger wird auch „Tár“: Florian Hoffmeisters zuvor unaufdringlich-beobachtende Kamera rückt der Protagonistin unangenehm nah. Oder aber distanziert sich schlagartig derart von ihr, dass glatt das Gefühl aufkommt, sie nehme eine heimlich in Társ Leben eindringende, voyeuristische Perspektive ein. Monika Willis Filmmontage wird assoziativer, Zeitsprünge werden erratischer. Der Sound wird kühl, schneidend, unheimlich – Schreie und Schemen verfolgen Tár, als wäre dieses Fake-Biopic kurzfristig zum Horrorfilm umarrangiert worden.

    Nach dieser Gänsehaut erzeugenden, finsteren Passage fängt sich „Tár“ audiovisuell, schlägt aber fortan narrativ Haken – dramatische, absurd-schwarzkomische und nachdenkliche. Und wie bei einer guten Sinfonie, finden auch hier die einzelnen, für sich denkwürdigen Passagen schlussendlich zusammen und ergeben eine Gesamterfahrung, die ebenso klar definiert wie vielseitig interpretierbar ist.

    Das macht „Tár“ zu einem famosen Film über klassische Musik, den Wert der Kunst, Machtstrukturen, Verantwortungsbewusstsein und das sonderbare Gefühl, dass gleichzeitig viel zu voreilig und viel zu spät Konsequenzen gezogen werden.

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