Jede Nation braucht ein Thema, mit dem sie ihre moralische Integrität testen kann. Für die USA war dies lange Zeit die Todesstrafe. Erst in den vergangenen Jahren hat sich der Fokus in Richtung der Folter verschoben. Wir erinnern uns an den Auftritt von Dick Cheney, der unter der Bush-Regierung im Jahre 2005 Guantanamo für unabdingbar erklärte, oder an die geheimen Memoranden zur Legitimierung der Folter, die zwei Jahre darauf an die Öffentlichkeit gelangten. Erst vor kurzem erfuhr auch Barack Obama politischen Gegenwind, als er die Schließung Guantanamos ankündigte. Den Serienfans dürfte hingegen der hitzige Diskurs rund um das Erfolgsformat „24" nicht entgangen sein: Die Serie sorgte mit ihrer legitimierenden Darstellung schonungsloser Verhörmethoden immer wieder für Redebedarf. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich Gregor Jordans „Unthinkable" beinahe als eine Art Metabetrachtung: Sein kammerspielartiger Thriller ist der Versuch, die Moralität hinter dem Diskurs zu entkleiden und zu relativieren.
Ein Terrorist (Michael Sheen) erklärt öffentlich, drei Atomsprengköpfe in den Vereinigten Staaten deponiert zu haben und sie nach Ablauf eines knapp bemessenen Ultimatums zu zünden. Während FBI-Agentin Helen Brody (Carrie-Anne Moss) den Mann ausfindig machen möchte, wird dieser völlig überraschend und ohne Gegenwehr verhaftet. Nach seiner Festnahme macht Arthur Steven Younger jedoch keinerlei Anstalten, die Standorte der Sprengkörper preiszugeben, sondern strahlt eine beinahe prophetische Ruhe aus. Die Sicherheitsbehörden sind machtlos, haben aber noch einen Trumpf in der Hinterhand: Kurzerhand wird der mysteriöse „H" (Samuel L. Jackson) hinzugezogen. Dessen Aufgabe: Ein Geständnis erzwingen, koste es, was es wolle! Bald schon muss auch die rechtschaffene FBI-Agentin Brody feststellen, dass hinter der Fassade des Familienvaters „H" ein eiskalter Pragmatiker lauert, für den Menschenrechte nur ein Stolperstein auf dem Weg zum Erfolg sind...
Terroristen, nukleares Bedrohungsszenario und toughe Spezialagenten: Fans von Jack Bauer dürften sich sofort heimisch fühlen, auch wenn der zähe Auftakt eher an eine schwächere Episode der Erfolgsserie erinnert. Sobald der mutmaßliche Terrorist jedoch in Gewahrsam sitzt, ändert Regisseur Jordan („The Informers") urplötzlich den Erzähltakt. In der Folge wandelt sich „Unthinkable" zu einem nervenaufreibenden Kammerspiel mit doppeltem Boden, das den Verhörtrakt zur Projektionsfläche moralischer Ressentiments stilisiert. In Samuel L. Jacksons ikonischer Darstellung vermengen sich gutbürgerlicher Lebensstil und eiskalter Pragmatismus. „H" ist kein gebrochener Mann, kein Jack Bauer, der nichts mehr zu verlieren hat. Er wohnt in einem Vorstadthäuschen und ist fürsorglicher Familienvater sowie anti-humanistischer Albtraum in einem. Auf dieser Basis spielt Jackson mit seiner Figur Identifikationspunkte gegeneinander aus. Er schockiert in einem Moment und verblüfft im nächsten mit menschlicher Wärme. „H" ist keine moralisch integere Figur, sondern die konsequente Verkörperung von Gegensätzen.
Jordan geht geradlinig vor und schmückt seine Dramaturgie nicht aus. Diese Reduzierung fordert eine deutlich höhere Intensität im Schauspiel. Jacksons berserkerhaftes Auftreten alleine würde die sporadische Handlung deshalb aus den Angeln heben, kontrastierte ihn der großartige Michael Sheen nicht mit charismatischer Ruhe. Seine Figur des Märtyrers nimmt eine ähnliche Funktion ein, wie einst Sean Penns Matthew Poncelet im Todestrakt-Drama „Dead Man Walking". Ihm gegenüber muss sich Carrie-Anne Moss‘ Charakter der prinzipientreuen FBI-Agentin permanent des eigenen moralischen Standpunkts versichern, der hier aber weniger in religiöser Integrität, sondern vielmehr in Rechtsstatuten verankert ist. Ihre Darstellung erreicht nicht annähernd den Tiefgang der famosen Darbietung Sarandons, funktioniert aber dennoch ausgesprochen gut. Die Nebendarsteller nehmen neben den drei zentralen Akteuren lediglich Statistenrollen ein. Mit Stephen Root und Necar Zadegan finden sich immerhin zwei nicht ganz unbekannte Gesichter in der zweiten Reihe: Root gab in der finalen Staffel von „24" für einige Episoden die Columbo-Karikatur Bill Brody, während Zadegan als aufgeklärte Präsidentengattin Daliah Hassan überzeugte.
„Unthinkable" überführt die Frage nach dem Richtigen oder Falschen in eine Frage nach den Bedingungen der Frage selbst. Das Setting funktioniert als eine Art Mikrokosmos, in dem Vorzeichen neu gemischt werden. Jordans Kunstgriff ist es, sämtliche Perspektiven über die Zeit zu relativieren und mit dem Schlussakkord nebeneinander stehen zu lassen. Dadurch gelingt ihm eine Zurschaustellung der immanenten Logik von Moral. Diese funktioniert als Rechtfertigung für gnadenlose Folter ebenso wie für ihre radikale Ablehnung. Jordans Drama forciert diese Unauflösbarkeit in einer Art Dialektik des Erlebens. Das Undenkbare ist deshalb nicht nur die Grenzüberschreitung als solche, sondern auch die Unentscheidbarkeit des moralischen Widerspruchs in der Praxis. Mehr noch: „Unthinkable" lässt den Zuschauer diese Ambivalenz an sich selbst erleben – eine Leistung, die den Film trotz verhaltenen Beginns unbedingt sehenswert macht!