Der Mathematiker César Hidalgo von der University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana veröffentlichte im Juli 2006 eine Formel, mit der er vorgab, die Einspielergebnisse von Filmen an den Kinokassen vorherbestimmen zu können. So absurd diese Meldung zum damaligen Zeitpunkt auch klang (und noch immer klingt), so ist eine gewisse innere Logik dennoch nicht zu leugnen. Erfolg ist im Filmgeschäft durchaus bis zu einem gewissen Maß kalkulierbar. Große Stars, ein dickes Marketingbudget und ein Thema, das eine möglichst große Zielgruppe anspricht, sind dabei die wohl wesentlichsten Faktoren. Und wenn ein Film mit diesen Anlagen dennoch einmal an den Kinokassen scheitert, so stellt dies die seltene Ausnahme von der Regel dar. Michael Bay und Die Insel können davon sicherlich ein Liedchen singen. Kontrastprogramm, Auftritt: „Juno“. Aber langsam und der Reihe nach…
Hin und wieder gibt es jedoch Filme, die wie ein kleines gallisches Dörfchen anmuten und sich standhaft gegen die Gesetze des Marktes wehren. Das außergewöhnliche an diesen Filmen ist, dass sie im ersten Moment so ganz und gar nicht sexy klingen. Sie handeln von Männern mittleren Alters auf einer Weinreise (Sideways), einem depressiven Kellner und gescheiterten Schauspieler auf Heimaturlaub (Garden State) oder einem untalentierten kleinen Mädchen, das gerne einen Talentwettbewerb gewinnen würde (Little Miss Sunshine). Im Grunde Banalitäten des Alltags, die im Arthouse-Kino gut aufgehoben zu sein scheinen. Und dennoch gelingt diesen Filmen das, wonach das klassische Kunstkino in der Regel vergeblich strebt: Sie entwickeln sich zu wahren Kassenschlagern. So spielte „Little Miss Sunshine“ bei einem Produktionsbudget von nur acht Millionen Dollar weltweit über 100 Millionen ein und „Garden State“ gelang das Kunststück, mit jedem Dollar seiner Produktionskosten 14 Dollar Umsatz zu generieren. Das sind Renditewerte, die nur von denn allerwenigsten Blockbustern erreicht werden (zum Vergleich: Herr der Ringe - Die Gefährten schaffte es pro Dollar Produktionskosten „nur“ auf neun Dollar Umsatz). Vorhersagen lässt sich ein solcher Erfolg allerdings nicht und spätestens hier würde Hidalgos Formel an ihre Grenzen stoßen.
Und mit „Juno“ steht nun der nächste Kandidat in den Startlöchern, der sich jeder Logik widersetzt. Und wieder ist der Film inhaltlich im Grunde reichlich banal: Die 16-jährige Juno MacGuff (Ellen Page) entschließt sich vor allem aus Langeweile zu einem One-Night-Stand mit ihrem Jugendfreund Paulie Bleeker (Michael Cera). Und wie das Schicksal so spielt, ist Juno nach dem kleinen Abenteuer, bei dem ein Sessel eine nicht unbedeutende Rolle einnimmt, schwanger. Daran können auch Unmengen Orangensaft und mehrere Schwangerschaftstests nichts ändern. Sie steckt gehörig in der Tinte. Zunächst denkt sie daran, das drohende Übel im Keim zu ersticken. Doch nachdem sie erfährt, dass der Fötus bereits über Fingernägel verfügt, nimmt sie von der Abtreibung abstand. Sie beschließt das Kind auszutragen und es zur Adoption freizugeben. In einer Zeitungsannonce, auf die sie ihre Freundin Leah (Olivia Thirlby) aufmerksam macht, wird sie auf das wohlhabende Ehepaar Vanessa (Jennifer Garner) und Mark Loring (Jason Bateman) aufmerksam. Die scheinbar perfekten Adoptiveltern für Junos kleinen Fauxpas. Nun muss sie nur noch ihrem Vater Mac (J.K. Simmons) und ihrer Stiefmutter Bren (Allison Janney) ihr kleines Problem beichten…
Juno-Mania. Mit diesem Begriff lässt sich das Phänomen, das über das amerikanische Box-Office herzog, am besten beschreiben. Primär angetrieben durch Mundpropaganda und ohne jemals auf Platz eins der Kinocharts gestanden zu haben, spielte „Juno“ allein in den USA bereits über 100 Millionen Dollar ein. Ein echter Langläufer, der einfach nicht totzukriegen war. Und da die Kinoauswertung in Übersee noch weitestgehend aussteht und die Produktion des Films lediglich 7,5 Millionen Dollar gekostet hat, dürfte den Buchhaltern der Fox Searchlight Pictures bereits die eine oder andere Freudenträne über die Wange gekullert sein. Grund für dieses Phänomen ist etwas, das „Juno“ mit allen oben genannten Beispielen gemein hat: Originalität. Während der „Minderjährige wird schwanger“-Plot eigentlich ein Drama erwarten lässt, hat der Zuschauer es in Wirklichkeit mit einer waschechten, niveauvollen Komödie zu tun. Und dass „Juno“ so prächtig funktioniert, ist untrennbar mit drei Namen verbunden: Regisseur Jason Reitman, Drehbuchautorin Diablo Cody und Hauptdarstellerin Ellen Page.
Mit Jason Reitman, der zuletzt mit der Raucher-Satire Thank You For Smoking auf sich aufmerksam machte und Drehbuch-Debütantin Diablo Cody haben sich zwei gefunden, die nicht besser zum gemeinsamen Projekt „Juno“ hätten passen können – obwohl der Sohn von Regiestar Ivan Reitman (Ghostbusters) und das Trailerpark-Mädchen auf den ersten Blick so gar nichts gemein haben. Reitman wurde als Zwölfjähriger von seinen Eltern damit konfrontiert wurde, dass sie die Adoption eines Kindes planen. Und die aus ärmlichen Verhältnissen stammende Cody hat als Jugendliche miterlebt, wie ihre beste Freundin an der Highschool ungewollt schwanger wurde und sich dazu entschloss, das Kind auszutragen. Eine optimale Konstellation. Wahrscheinlich liegt es an den eigenen Erfahrungen, die Reitman und Cody in ähnlichen Situationen sammeln konnten, dass „Juno“ trotz des hohen Unterhaltungswertes nie unglaubwürdig wird. Das beste Beispiel hierfür ist die Szene, in der Juno ihren Eltern ihre Schwangerschaft gesteht. Eigentlich eine ernste, wenig amüsante Situation. Doch Reitman und Cody gelingt es, hier einige wirklich großartige Pointen einzubauen. Dabei bewegen sie sich natürlich auf dünnem Eis. Die Grenze zum Klamauk ist nah, wird hier und da durchaus angekratzt, aber nie überschritten. Dadurch bleibt „Juno“ trotz der hochgradig amüsanten Aufarbeitung dieses ernsten Themas stets in sich schlüssig. Ein weiterer Pluspunkt: „Juno“ hat es nie nötig, sich beim Fäkalhumor anzubiedern, was zuletzt Judd Apatow im artverwandten Beim ersten Mal nicht gänzlich vermeiden konnte - und vor allem nicht wollte. Stattdessen brennen Reitman und Cody ein Feuerwerk großartiger Dialoge ab und setzen voll auf Situationskomik. Das reicht aus, um den Unterhaltungswert auf ein Niveau zu hieven, das viele Genrevertreter allenfalls mit dem Fernglas zu Gesicht bekommen.
Auch wenn Reitman und Cody die Steilvorlage zum Erfolg für „Juno“ lieferten, so ist es letztlich Ellen Page, die diese aufnimmt und verwertet. Erstmals richtig ins Rampenlicht spielen konnte sich die gerade einmal 18-jährige Kanadierin als unerbittlicher aber doch verletzlicher Racheengel Hayley im verstörenden Psycho-Thriller Hard Candy. Nach einer belanglosen Rolle in Brett Ratners X-Men: Der letzte Widerstand bestand sie in dem Drama An American Crime, das in Deutschland leider nie einen Kinostart erhielt und nur auf Festivals gespielt wurde, ein schauspielerisches Duell mit Catherine Keener auf Augenhöhe und zeigte eine beachtliche Reife in ihrem Spiel. „Juno“ dürfte für Page nun den endgültigen Durchbruch bedeuten. Ihre Präsenz und Ausstrahlung sind außergewöhnlich. Man kann es drehen und wenden wie man möchte, aber ihre Nominierung als beste Hauptdarstellerin bei den anstehenden Oscar-Verleihungen ist die logische Konsequenz aus der wohl erfrischendsten Darstellungen einer jungen Schauspielerin seit etlichen Jahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sie diesen Preis nicht gewinnen (Komödien waren noch nie das Lieblingsgenre der Academy), doch wenn es so kommen sollte, wäre es gerechtfertigt. Ohnehin ist das Casting bei „Juno“ außerordentlich gut geglückt. Jede noch so kleine Rolle ist nahezu perfekt besetzt. J.K. Simmons (Spider-Man) ist als gutherziger Vater für einige großartige Momente verantwortlich. Jennifer Garner (Elektra, Operation: Kingdom, Lieben und lassen), die in einer solchen Rolle noch nie zu sehen war, und Jason Bateman (Operation: Kingdom, Mr. Magoriums Wunderladen, Smokin´ Aces) sind als streng durchorganisiertes Upper-Class-Pärchen der optimale Gegenpart zu Junos fast schon schonungsloser Spontanität und Offenheit. Und Michael Cera macht als sonderbarer und doch liebenswerter Geek genau da weiter, wo er in Superbad aufgehört hat.
Es gibt wenig, das man „Juno“ vorwerfen könnte. Eigentlich hat Jason Reitman, auf dessen nächste Projekte man schon gespannt sein darf, eine nahezu perfekte Komödie abgeliefert. Allerdings gibt es ein Haar in der (deutschen) Suppe: Die deutsche Übersetzung und Synchronisation hinterlässt nicht immer den glücklichsten Eindruck. So lässt das Timing an manchen Stellen arg zu wünschen übrig und so manche Pointe verpufft im Ansatz. Wer also die Gelegenheit bekommt, sollte sich „Juno“ unbedingt in der englischsprachigen Originalfassung anschauen und darf zu unserer Wertung dann mindestens noch einen Punkt hinzu addieren.
Fazit: Unterhaltsam, originell und großartig gespielt – aus diesen drei Gründen sollte man „Juno“ unbedingt gesehen haben.