„Hab mich lieb!“ Der Titel ihres zweiten Kinofilms könnte über dem gesamten bisherigen Werk von Sylke Enders stehen. Schon ihr Debüt, das vielfach preisgekrönte Jugenddrama „Kroko“, handelte zentral von der Sehnsucht nach Geborgenheit und Verständnis, dem Versuch aus der problembeladenen eigenen Existenz auszubrechen. Auch ihr dritter Spielfilm zeichnet sich nun sowohl durch vielschichtige Charakterzeichnung, als auch durch ein beeindruckendes Gespür für Ort und Atmosphäre, für Situationen und Zustände aus. Im komplexen Beziehungsdrama „Mondkalb“ vereint Sylke Enders eine extrem kontrollierte und genaue Inszenierung mit der Freiheit der Auslassung. Es wird nicht alles erklärt und dadurch umso mehr ausgedrückt. Die Regisseurin ermöglicht und verdichtet so die ungemein facettenreichen Porträts ihres herausragenden Hauptdarstellertrios. „Mondkalb“ besticht durch emotionale Intensität genauso wie durch erzählerische Intelligenz. Nach nur drei Filmen ist Sylke Enders endgültig zu den wichtigsten Filmemachern des aktuellen deutschen Kinos zu rechnen.
Alex (Juliane Köhler) kehrt nach einer verbüßten Gefängnishaft in die brandenburgische Provinz zurück und zieht in das Haus ihrer verstorbenen Großmutter. Sie arbeitet in einem kleinen Betrieb im Labor und kapselt sich ansonsten ab. Tom (Leonard Carow), ein zwölfjähriger Junge, streunt in und um Alex' Haus herum, spricht zunächst kein Wort, lässt sich aber auch nicht einfach wegschicken. Bald lernt die Frau auch den Vater des Jungen, Piet (Axel Prahl), kennen. Der alleinerziehende Fahrschullehrer findet schnell Gefallen an der zurückhaltenden Alex, und Tom fasst allmählich immer mehr Zutrauen zu ihr. Aber alle drei tragen schwer an den Lasten traumatischer Erinnerungen. Piet schafft es nicht, zu Tom durchzudringen. Schwere Zwischenfälle scheinen eine gemeinsame Zukunft für immer zu verhindern.
Die Gespenster der Vergangenheit verfolgen die Charaktere des Films ständig. Enders verzichtet darauf alles zu erklären, die Vorgeschichte bleibt zu großen Teilen im Unklaren. Die Darsteller nutzen den sich bietenden Spielraum mit großer Delikatesse und der Zuschauer kann sich umso mehr für diese Menschen interessieren. Alex ist ständig auf der Hut, häufig steht sie mit verschränkten Armen da, die Lippen zusammengekniffen. Juliane Köhler (Der Untergang, Nirgendwo in Afrika) schafft es, tiefe Verletzlichkeit und diffuse Wut in der abwartenden und beobachtenden Frau spürbar zu machen. Ganz das Gegenteil ist der immer redende Piet mit seiner Unruhe. Axel Prahl (Halbe Treppe, Willenbrock, Du bist nicht allein) nuanciert das ständige Bemühen um Lockerheit, hinter dem sich latente Spannung und Überforderung verbirgt, fein aus. Was auf den ersten Blick wie eine neue Variante aus dem Stamm-Repertoire des Schauspielers wirken könnte, erweist sich in „Mondkalb“ als weitaus mehr. Das ist auch Sylke Enders zu verdanken. Wo andere Regisseure in Prahl eine prototypische Idealbesetzung für einen vermeintlichen sozialen Realismus zu sehen scheinen und so Manierismen fördern, verzichtet Enders auf jeden Gestus allgemeingültiger Milieustudie. Obwohl in „Mondkalb“ an jedem Wort und an jeder Bewegung spürbar gearbeitet wurde, ist die Wirkung natürlich und authentisch. Für Axel Prahl dürfte es die reifste Leistung seiner bisherigen Karriere sein, die wahre Entdeckung ist aber Leonard Carow als Tom. Der Jungdarsteller, der hier nach einigen Fernsehrollen erstmals in einem Kinofilm auftritt, ist in der schwierigen Rolle des traumatisierten Kindes, das sich auf äußerst komplizierte Weise artikuliert, in jeder Sekunde glaubwürdig.
Ein zentraler Satz in Sylke Enders' Drehbuch wird von Alex und Piet bei mehreren Gelegenheiten ausgesprochen: „Niemand kann aus seiner Haut.“ Das bringt die Schwierigkeiten der Figuren auf den Punkt und gilt für die abweisende Einzelgängerin Alex ähnlich wie für den ranschmeißerischen und leutseligen Piet. Enders unterstreicht dies, indem sie die Beklemmung in Bilder übersetzt. Der Kader wird zum Gefängnis der Figuren. Immer wieder setzen Türen, Gitter, Fenster oder Supermarktregale zusätzliche Rahmen, durch die häufige Isolation der Personen im Raum wird zudem ein Eindruck der Ausweglosigkeit verstärkt. Enders und ihr Kameramann Frank Amann brechen dieses Muster jedoch gezielt auf. Gelegentlich scheinen mit der Kamera die Dinge in Bewegung zu kommen, das aufwühlende Finale setzt diese Dynamik in expliziten Gegensatz zum Motiv des Eingesperrtseins. Hoffnung und Verzweiflung treffen hier mit größter Wirksamkeit aufeinander.
Das Ende des Films ist mit seiner anregenden Offenheit, die keinesfalls mit Unbestimmtheit verwechselt werden darf, der logische Zielpunkt in Enders' Erzählung. Vom auf eine Kindheitserinnerung zurückgeführten Filmtitel „Mondkalb“ bis zu einer eindrucksvollen Galerie von Nebenrollen bleibt nichts, was nur angedeutet ist, im Klischeehaften oder Aufgesetzten stecken.
Besonders bei den Außenaufnahmen ist eine regelrechte Entdeckerfreude spürbar. Eine Autofahrt mit geradezu lyrischen Momenten, ein idyllisches Intermezzo auf einem Bauernhof, ein See und Felder - alles erscheint in einem fast magischen Licht. Von forcierter Ost-Tristesse ist auch bei einem Tanzkurs, beim Einkaufen und auf dem Arbeitsplatz nichts zu spüren, vielmehr leitet Neugier den Blick. Enders meidet jede Formelhaftigkeit, es geht ihr auch bei einem schwierigen Thema wie familiäre Gewalt nicht um Schuldzuweisungen und vermeintliche Patentlösungen. Die Komplexität des menschlichen Fühlens und Handelns, nichts weniger bildet den Resonanzboden ihres Kinos.
Sylke Enders bezieht den Zuschauer stark ein, indem sie ihm keine einseitigen Lösungen und keine erzählerische Bevormundung zumutet. Sie erkundet auf aufregende Weise die Möglichkeiten des Mediums und damit steht „Mondkalb“ in einer Reihe eindrucksvoller neuerer deutscher Filme, deren Macher trotz großer Unterschiede alle den Geheimnissen des eigenen Schaffens auf der Spur sind. Vom radikalen Hinterfragen formaler Mittel und gesellschaftlicher Zusammenhänge in Romuald Karmakars Hamburger Lektionen über Angela Schanelecs Nachmittag, einem Balanceakt auf der Schnittstelle von Film und Theater, von Rollenspiel und Selbstfindung, zu Christoph Hochhäuslers Falscher Bekenner, der die Spannungen von Nähe und Distanz, Individuum und Kollektiv kühl seziert – das deutsche Kino muss sich nicht verstecken. Auf intelligente Weise ums Ganze geht es auch bei Rudolf Thomé, dem Philosophen unter den hiesigen Regisseuren, der seinen letzten Film ganz programmatisch Das Sichtbare und das Unsichtbare nannte, und in Vivere von Angelina Maccarone, die die Frage nach der Perspektive mit der Darstellung des Abgrunds zwischen den Menschen verbindet. Genau wie in Mondkalb bleibt dort die Hoffnung auf seine Überwindung. Ein Antrieb, der Filmemacher und Publikum verbindet.