Das uvre eines Künstlers ist niemals abgeschlossen. Selbst nach seinem Tod ist es noch ständigen Veränderungen ausgesetzt. Es ist ein stetiges Wachsen und Wandeln. Dies gilt natürlich erst recht für das Werk eines noch aktiven Künstlers. Mit jeder neuen Arbeit erhält sein Gesamtwerk eine neue Facette. Zugleich gibt es da aber auch immer eine gewisse Beständigkeit. Kein Gemälde und kein Roman, keine Komposition und kein Film kommt aus dem Nichts. Jedes neue Werk steht in einem unaufhörlichen Dialog mit allem, was vorher war, und allem, was noch kommen wird. Aus ihm erwächst ein überaus komplexes Gefüge, einem lebenden Organismus durchaus vergleichbar, dessen Herz dieses so fragile Gleichgewicht aus Altem und Neuem, Wandel und Kontinuität, ist. So kann ein Künstler wie der Filmemacher Rudolf Thome sich mit jeder Arbeit wieder neu erfinden und sich doch zugleich immer treu bleiben. Seit mehr als 40 Jahren dreht Thome schon Filme, die Teile eines großen, sich aber ständig verwandelnden Puzzles gleichen. Mit dem melancholischen Künstlerdrama „Das Sichtbare und das Unsichtbare“, seinem 25. Langfilm, hat er diesem Puzzle nun ein ganz besonderes Stück hinzugefügt. Diese grandiose Chronik eines Abschieds markiert einen in seiner Konsequenz schon erschreckenden Endpunkt, aber eben auch einen neuen Anfang. Nach diesem künstlerischen Befreiungsschlag ist alles möglich.
Der Maler Marquard von Polheim (Guntram Brattia) steckt in einer tiefen existentiellen Krise. Eigentlich müsste die Verleihung des mit 100.000 Euro dotierten Paul-Gaugin-Preises so etwas wie der Höhepunkt seiner Karriere sein. Endlich wird ihm die Anerkennung zuteil, die ihm so lange verwehrt geblieben ist. Doch er hat innerlich schon mit seiner Kunst abgeschlossen, und so erinnert ihn die Ehrung nur an das, was er glaubt, für immer verloren zu haben. Um seiner Verachtung für die Kunst-Welt Ausdruck zu verleihen, kommt er betrunken und viel zu spät zu der Verleihung. Und als wäre das nicht schon Provokation genug, hält er eine zynische Dankesrede, in der er sich beklagt, dass dieser Preis 20 Jahre zu spät komme. Als er sich schließlich kaum noch auf den Beinen halten kann, bringt ihn seine langjährige Lebensgefährtin, die Malerin Maria Döbereiner (Hannelore Elsner), nach Hause. Ihre Beziehung steckt schon seit einiger Zeit fest, aber dieser Abend ist der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Sie unternehmen zwar ein paar Tage später noch einmal einen gemeinsamen Ausflug zu einem See, aber die Kluft zwischen ihnen können sie nicht mehr überbrücken. Und so lässt sich Marquard zunächst auf eine Affäre mit seinem Model Angie (Stefanie Roße) ein und fährt dann für drei magische Tage mit seiner Tochter Lucia (Anna Kubin) an die Ostsee. Maria trifft sich währenddessen wieder mit ihrem früheren Freund, dem Philosophen und Pferdezüchter Gregor (Hansa Czypionka).
„Das Sichtbare und das Unsichtbare“ – so nennt Maria das Bild, das sie in der Zeit malt, in der Marquard nach und nach immer weiter aus ihrem Leben verschwindet. Es ist ein Werk ihrer Wut, der Hannelore Elsner mit jeder Faser ihres Körpers Ausdruck verleiht. Manchmal hat man fast das Gefühl, der Pinsel – Hannelore Elsner hat das Bild unter der Anleitung von Salomé selbst gemalt – würde in ihrer Hand zu einer Art von Waffe. In ihrem fünften Film mit Rudolf Thome präsentiert sich die so vielseitige wie nuancierte Grande Dame des deutschen Kinos als eine moderne Amazone. Nur kann diese Kriegerin ihren Groll in kreative, künstlerische Bahnen lenken. Marias wilde, stürmische Gefühle und dieser immer wieder aufbrandende Hass werden sichtbar und damit noch intensiver erfahrbar in den elementaren Farben, den verzerrten Formen des Gemäldes. Doch da ist auch noch etwas anderes: eine unendliche Sehnsucht und eine große Liebe, die jenseits des äußerlich Wahrnehmbaren liegen, aber trotz allem nicht weniger real sind als ihr Zorn, ihre Verzweiflung und ihre Verachtung.
Das Sichtbare und das Unsichtbare – das könnte auch das Motto sein, unter dem Rudolf Thomes gesamtes uvre steht. Das Sichtbare ist die vom Filmemacher und seinem Team geschaffene Realität, die dann die Kamera einfängt und mit einer Geschwindigkeit von meist 24 Bildern pro Sekunde auf Filmmaterial bannt. Alles, was jenseits des Bildkaders liegt, was sich unserem Blick entweder entzieht oder verschließt, gehört also letztendlich weder zur Wirklichkeit des Films noch zu unserer alltäglichen Realität. Es ist das wahrhaft Unsichtbare und damit gänzlich ungreifbar. Jeder Versuch, es doch in Worte zu fassen, führt direkt ins Reich des Metaphysischen. Aber bei Thome genügen sich die Bilder – auf jeden Fall erst einmal – selbst. Sie erzählen in einem ganz klassischen Sinne eine Geschichte, mit der gewissermaßen alles gesagt ist.
In Thomes 25. Langfilm sind es sogar gleich zwei Geschichten, die zunächst wie eine beginnen, sich dann aber trennen und von da an parallel nebeneinanderher laufen. Aber eines ist ihnen zumindest doch gemeinsam. Sie zeichnen beide den Weg eines Künstlers zu sich selbst nach. Als wir Maria erstmals begegnen, steht sie im Badezimmer vor dem Spiegel und trägt Lippenstift auf. Zunächst sind ihre Bewegungen noch kontrolliert, doch dann passiert etwas in ihr. Sie verschmiert den Lippenstift rund um ihren Mund. Ihr Gesicht wird zu einer wüsten Clownsmaske, die aber nichts Heiteres und auch nichts Melancholisches hat. Dieser Verlust der Selbstherrschung wirkt vielmehr erschreckend. Da sind so viele aufgestaute, nicht einmal ansatzweise verarbeitete Gefühle in ihr, das man glaubt, sie könnte jeden Augenblick explodieren. Einst war ihre Beziehung zu Marquard so etwas wie die Erfüllung für die Malerin. Sie hatten sich in der Südsee auf der Insel Moorea kennen gelernt und sich dann einfach an diese zauberische Zeit geklammert, so als hätten sie das Licht der Insel mit nach Berlin gebracht. Nur hat sich ihre Liebe mit der Zeit als Sackgasse entpuppt, aus der Maria nun wieder heraus finden muss. Dass der Weg in die Freiheit auch der Weg zurück zu ihrem ehemaligen Geliebten Gregor ist, entspricht dabei ganz Rudolf Thomes Sicht auf das Leben. Vergangenheit und Gegenwart sind bei ihm immer eins; und gerade eine Kreisbewegung kann auch ein Fortschritt sein. Seine Figuren sehnen sich nach diesen zweiten Chancen, nach diesen Neuanfängen, die alte Fehler zwar nicht auslöschen können, ihnen aber einen neuen Sinn geben.
Als wir Marquard zum ersten Mal sehen, rast er mit seiner Maschine über eine von Wald gesäumte Landstraße. Selbst in den schärfsten Biegungen geht er kaum mit dem Tempo herunter. Er legt sich vielmehr so tief in diese Kurven hinein, dass er den Asphalt fast zu berühren scheint. Wer so Motorrad fährt, den interessiert es nicht mehr, was mit ihm passiert. In diesem Rausch der Geschwindigkeit tritt ein Überdruss am Leben zutage, den Marquard auch später nicht überwinden kann. Selbst das Glück, das er in den stillen Tagen mit seiner Tochter am Meer empfindet, ruft nur den Wunsch nach dem Ende in ihm hervor. Trotzdem ist er, als er von der Ostsee zurückkommt und sich von Lucia verabschiedet, nicht mehr der Mann, der zu Beginn auf den Tod zugerast ist. Je näher Marquard seiner Bestimmung kommt, desto ruhiger wirkt Guntram Brattia. Die anfängliche Aggressivität seines Spiels weicht einer nicht weniger intensiven inneren Gelassenheit. In den kleinsten Gesten und Regungen offenbaren sich die Entschlossenheit und die Zufriedenheit eines Mannes, der sein Schicksal nicht nur akzeptiert, sondern aus ganzem Herzen umarmt. Die Subtilität von Brattias Darstellung hat etwas geradezu Umwerfendes. Seit Thome mit Hannelore Elsner dreht, also seit seinem 21. Film „Rot und Blau“, standen die männlichen Charaktere immer ein wenig im Schatten dieser Schauspielerin. Brattia ist der erste, der sich ihr gegenüber behaupten kann und seinem Charakter das gleiche Gewicht verleiht, das auch Maria hat.
Aber Rudolf Thome ist nicht nur der Geschichtenerzähler, der ungebrochenen Zeugnis von den vielfältigen Irrungen und Wirrungen des Lebens abgelegt. Er ist auch der stille, unermüdlich suchende Metaphysiker unter den Filmemacher, die sich damals in der zweiten Hälfte der 60er Jahre anschickten, den deutschen Film noch einmal ganz neu zu erfinden. Seine Bilder mögen sich selbst genug sein, aber zwischen ihnen passiert immer etwas, das über das Sichtbare weit hinausgeht. Bei „Das Sichtbare und Unsichtbare“ hat er nun erstmals mit Fred Kelemen als Kameramann gearbeitet. Und es ist, als ob diese Zusammenarbeit noch einmal alles verändert hätte. Kelemens Bilder sind ungeheuer elegant – seine langsamen Fahrten und seine beinahe unmerklichen Zooms suchen ihres gleichen im deutschen Kino. Aber diese Schönheit kennt keine Milde. Sie paart sich mit einer Härte, die man so bisher noch nicht aus Thome Filmen kannte. Es ist die kühle, klare Schönheit eines in jeder Hinsicht perfekten Diamanten. Hier hat ein Filmemacher eine derartige Kontrolle über das Sichtbare, dass das Unsichtbare als Vision hinter den Bildern immer präsent ist. Thome selbst spricht in Interviews und in seinem Tagebuch oft von der Seele der Figuren, die im Spiel der Darsteller aufscheint. Und besser kann man diesen magischen Akt, der sein Kino so einzigartig macht, auch nicht beschreiben. Während man Hannelore Elsner und Guntram Brattia zusieht, hat man immer das Gefühl, einen so kostbaren wie rätselhaften Einblick in die Seele ihrer Charaktere zu erhalten. Und so tun sich hinter den Bildern Abgründe auf, in denen man zusammen mit Thome fast zu verschwinden droht. Vor allem der Blick in Marquards Seele lässt einen schwindlig werden – insofern ist es auch nicht verwunderlich, dass Thome selbst eine zeitlang glaubte, dies könnte durchaus sein letzter Film werden. Wer diese Schönheit und diese Dunkelheit geschaut, ist dem Tod näher, als je zuvor. Aber dieses Schwindelgefühl muss man aushalten, schließlich manifestiert sich in ihm das Unsichtbare, ohne das es keine große Kunst gäbe.