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    Verbrechen und andere Kleinigkeiten
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Verbrechen und andere Kleinigkeiten
    Von Matthias Ball

    Zu den beliebtesten Gesprächsthemen von Woody Allens Figuren gehört zweifellos die Frage nach dem Sinn des Lebens. Bereits 1979, in Manhattan, machte sich der von seinem elenden Dasein enttäuschte Schriftsteller Isaac Davis auf die Suche nach ersten Antworten. Es dauerte eine Weile, dann aber, gegen Ende des Films, fand er sie: Marlon Brando, Groucho Marx, Louis Armstrongs Aufnahme vom Potato Head Blues, die Äpfel und Birnen von Cézanne. Viele Fans von Allens früheren Komödien reagierten auf seinen damals neu entdeckten Existenzialismus zwar mit großer Verbitterung, doch wenigstens, so sagte man sich damals, behalte er bei aller Skepsis sein Vertrauen in die Macht der Kunst. Zehn Jahre später ist von diesem Zweckoptimismus einstiger Tage jedoch nichts mehr zu spüren. Allens Zuversicht wurde kleiner, erst kam der Frust und die Depressionen, am Ende blieb nur noch sein trockener Zynismus. Wie gut ernstes Drama und lockerer Humor dabei mitunter zusammenpassen, beweist der exzentrische New Yorker eindrucksvoll in „Verbrechen und andere Kleinigkeiten.

    Unter dem Beifall seiner Frau und Tochter wird der Augenarzt Judah Rosenthal (Martin Landau) für sein langjähriges Engagement in der Wohltätigkeit und den Verdiensten für die Klinik geehrt. In den Augen der Gesellschaft ist Judah ein zutiefst liebenswerter Familienmensch, ein Philanthrop erster Güte und zugleich einer der Besten seines Fachs. In der Realität hingegen steckt hinter der glanzvollen Fassade aus Prestige und Reichtum das wenig rühmliche Bild eines Betrügers, der seine Frau belügt und Spendengelder veruntreut. So sieht es zumindest seine Geliebte Dolores (Anjelica Huston), die Judahs Frau Miriam (Claire Bloom) von allem erzählen will, sollte sich dieser nicht von ihr trennen. Verzweifelt sucht Judah zunächst moralischen Beistand beim Rabbi Ben (Sam Waterston), wendet sich dann aber schließlich doch an seinen kriminelle Bruder Jack (Jerry Orbach), der Dolores endgültig aus dem Weg räumen soll.

    Demgegenüber steht das weitaus weniger spektakuläre Leben des idealistischen und chronisch erfolglosen Dokumentarfilmers Cliff Stern (Woody Allen). Obwohl künstlerisch durchaus ambitioniert, schleppt sich Cliff beruflich wie privat von einer Krise zur nächsten. Mit seinen Filmen verdient er kaum noch Geld und auch die Ehe steht kurz vor dem Scheitern. Auf Drängen seiner Frau Wendy (Joanna Gleason) bietet ihm dann ausgerechnet ihr erfolgreicher Bruder Lester (Alan Alda) einen lukrativen Job an. Cliff soll Lesters Leben für eine Fernsehreihe groß inszenieren, um die eigene Karriere zumindest finanziell voranzubringen. Widerwillig akzeptiert Cliff das Angebot, verliebt sich während der Dreharbeiten aber in die Produzentin Halley Reed (Mia Farrow), mit der zusammen er einen Film über den deutsch-jüdischen Philosophen Louis Levy (Martin Bergmann) drehen will. Halley scheint von Cliffs Angebot zunächst begeistert, entscheidet sich letztlich dann aber doch für die Karriere und verlobt sich mit Lester.

    Während Cliff letztlich einsehen muss, dass er bei Halley selbst mit einer romantischen Filmvorführung von „Singin’ In The Rain“ und indischem Fastfood chancenlos bleibt, plagen Judah weitaus größere Sorgen. Denn er muss sich entscheiden. Zwischen dem luxuriösen und mühsam aufgebauten Leben als geschätzter Augenarzt und der großen Leidenschaft mit einer Frau, die ihn neben der Karriere am Ende auch seinen privilegierten Platz in der Gesellschaft kosten wird. Als Dolores sich dann weder durch gute Worte, noch mit einem hochdotierten Scheck abweisen lässt, bekommt Judah ein ernstes Problem: Erstmals in seinem Leben sieht er sich mit der moralischen Dimension seines Handelns direkt konfrontiert, ohne dass ihm Geld oder Status zunächst entscheidend weiterhelfen würde. Im Gespräch mit dem religiösen Ben, der an das Gute im Menschen, an eine moralische Struktur und die Existenz eines universalen Gerechtigkeitssinns glaubt, bricht Judah schließlich mit seinem jüdischen Glauben und setzt den aus seiner Sicht illusionären Wertevorstellungen das Bild einer gnadenlosen Realität entgegen, in der sich das gerechte Handeln in erster Linie nach dem eigenen Wohl bestimmt.

    Judah: „What good is the law if it prevents me from receiving justice?”

    Ben: „Judah, the law, without the law it’s all darkness.”

    Ein Alternativmodell zu Bens idealistischer Lebensauffassung formuliert der Philosoph Louis Levy in der von Cliff produzierten Dokumentation. Darin erzählt Levy von der Gleichgültigkeit des Daseins und der Abwesenheit aller lang gepredigten Werte, von einem kalten und verlassenen Universum, in der einzig die Liebe dazu imstande ist, dem Leben einen wahren Sinn zu geben. Kurzum, in der Welt, wie wir sie kennen, herrscht eine tiefe Finsternis, ohne Moral und Verantwortung. Um in der Metapher des Films zu bleiben: Während Ben und mit ihm symbolisch die Augen der Gerechtigkeit erblinden, erscheint dem postreligiösen Rationalisten Judah das von ihm begangene Verbrechen als bloße Kleinigkeit, über die er ungesühnt hinwegkommt. Für Cliff hingegen, der neben seiner Frau auch Halley verliert, beschränkt sich das Lebensglück auf die wenigen Momente, die er gemeinsam mit seiner Nichte im Kino verbringt. Denn in der Traumwelt des klassischen Hollywoods, Cliffs letztem Zufluchtsort, scheint die Welt noch intakt. Hier regiert das Gesetz der Moral, hier wird das aufrichtige und verantwortungsbewusste Handeln mit einem Happy End belohnt, während selbstgerechte Menschen wie Judah und Lester am Ende ihre verdiente Strafe erhalten.

    Im Unterschied zu Ben, der seinem Glauben von Beginn an blind vertraut, hat Cliff die hoffnungslose Lage seines Schicksals jedoch längst erkannt. Angetrieben von der Vorstellung einer besseren Welt zieht er so in den einsamen Kampf für Moral und Gerechtigkeit. Zwar gelingt es Cliff in seiner Dokumentation, Lester und seine leeren Phrasen zu enttarnen, doch kann auch er den Triumph seines Schwagers letztlich nicht verhindern. Es sind Szenen wie diese – etwa Allens grandios inszenierte Mussolini-Satire – die immer wieder Einblicke in die meisterhafte Struktur von „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ geben. Denn in der Synthese aus religiös-philosophischen Lebensfragen und dem Realismus des banalen Alltagslebens verbindet Allen nicht nur in filigranster Weise verschiedene Handlungsebenen, sondern setzt der überwiegend dunklen Atmosphäre zugleich den Witz und die Schärfe seiner pointierten Dialogen entgegen. Wie wir von Cliff in der Schlussszene jedoch erfahren, ist „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ keine Tragödie: Während sich in Allens Vorlage, Dostojewskis klassischer „Schuld und Sühne“-Geschichte, der Mörder am Ende stellt, weil er mit der Last der Schuld nicht mehr leben kann, findet Judah in der herrschenden Leere die erlösende Befreiung. Für Allen hingegen ist sie der eigentliche Ausgangspunkt all seiner Zweifel.

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