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    Der fremde Sohn
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Der fremde Sohn
    Von Stefan Ludwig

    Clint Eastwood ist eine lebende Legende. Neben seiner sagenhaften Schauspielkarriere nahm er seit 1971 immer wieder auch auf dem Regiestuhl Platz. Dabei schuf er vor allem mit seinen Anti-Western Der Texaner und Erbarmungslos zwei moderne Klassiker. Seit der Jahrtausendwende arbeitet Eastwood fast schon im Akkord. Nach seinem Boxer-Meisterwerk Million Dollar Baby und seinem WW2-Mammutprojekt (Flags Of Our Fathers, Letters From Iwo Jima) hat er sich mit „Der fremde Sohn“ nun einer wahren Geschichte aus den 1920er Jahren angenommen, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie die Korruption innerhalb des Polizeiapparats von Los Angeles gnadenlos vorführt.

    Christine Collins (Angelina Jolie) ist Angestellte bei einer Telefongesellschaft und alleinerziehende Mutter. Eines Tages verschwindet ihr Sohn Walter (Gattlin Griffith) spurlos. Nach fünf Monaten verzeichnet die Polizei endlich einen Erfolg. Die Beamten haben den Jungen in Illinois aufgespürt. Doch bei der Übergabe erschrickt Christine: Das Kind ist nicht ihr Sohn. Doch das Polizeidepartement, das wegen Korruptionsvorwürfen unter Dauerbeschuss steht, will mit dem Fall unbedingt sein schlechtes Image aufpolieren. Captain J.J. Jones (Jeffrey Donovan) rät ihr deshalb, das Kind doch zumindest eine Zeit lang „auszuprobieren“. Schließlich könnte es sich ja doch um ihren echten Sohn handeln, der sich in den vergangenen Monaten nur eben etwas verändert habe. Doch Christine will keinen fremden Sohn großziehen und versucht stattdessen, eine Wiederaufnahme der Ermittlungen zu erreichen. Als sie nur noch die Möglichkeit sieht, sich mit dem Vorfall an die Öffentlichkeit zu wenden, wird sie von der Polizei vorsorglich in eine Nervenheilanstalt eingewiesen…

    Bereits in Durchgeknallt war Angelina Jolie als Insassin einer psychiatrischen Klinik zu sehen - neben Ein mutiger Weg einer ihrer wenigen Auftritte, bei denen sie ihre ganze schauspielerische Bandbreite abrufen durfte. Sind die meisten ihrer Rollen doch eher in Spaßproduktionen wie Wanted und Mr. And Mrs. Smith angesiedelt. In „Der fremde Sohn“ liefert sie nun trotz 20er-Jahre-Frisur eine erneute Glanzleistung ab. Glaubhaft verkörpert sie die verzweifelte Mutter, die der übermächtigen Polizeimacht den Kampf ansagt. Auch ansonsten hat Eastwood einen 1a-Cast zusammengetrommelt. Bis in die kleinste Nebenrolle ist sein Film hervorragend besetzt.

    Clint Eastwood ist einer der ältesten Hasen im Filmgeschäft. Während er das Image des „weisen alten Mannes“ in Space Cowboys noch persiflierte, hat er in den vergangenen Jahren jedoch begonnen, sich selbst zunehmend ernster zu nehmen. Trotzdem bietet sein neuester Streifen auch eine amüsante Seite. Die bisweilen aberwitzigen Versuche der Polizei, Christine davon zu überzeugen, dass sie ihren echten Sohn wiederbekommen hat, sind auf Dauer urkomisch. Was „Der fremde Sohn“ jedoch noch weitaus mehr auszeichnet, ist die vollendete Bildsprache. Jede Kameraeinstellung ist perfekt gewählt, hinter jedem Schwenk und jedem Zoom vermutet man einen tieferen, dem gemeinen Zuschauer verborgenen Sinn. Selbst der Sprung in die späten 1920er Jahre gelingt Eastwood mühelos. Auch wenn in Wahrheit natürlich viel Arbeit dahintersteckt: Für gerade einmal zwei kurze Szenen wurde extra ein roter Straßenbahnwagen nachgebaut. Und auch bei Kostümen, Frisuren und den zahlreichen alten Autos stimmt jedes Detail.

    Seit jeher tendiert Clint Eastwood in seinen Regiearbeiten zur Überlänge. Auch „Der fremde Sohn“ bildet da keine Ausnahme. Dass trotz der 140 Minuten Spieldauer keine Langeweile aufkommt, ist dem Drehbuch zu verdanken. Der Film lässt sich lose in drei Teile splitten. Im Mittelpunkt steht Christines Kampf um ihren Sohn. Daneben dreht sich ein Strang um den Pastor Gustav Briegleb (John Malkovich, Burn After Reading), der als Radiomoderator versucht, die korrupten Machenschaften der Polizei offen zu legen. Schließlich wird auch noch die Geschichte des Serienmörders Gordon Northcott (Jason Butler Harner) erzählt. Dank dieser abwechslungsreichen Elemente gibt es keinerlei Leerlauf.

    Dreh- und Angelpunkt des Skripts ist die Auflehnung der Zivilgesellschaft gegen die Staatsgewalt. Pastor Briegleb kämpft mit allen Mitteln an der Seite von Christine Collins. Er hält feurige Reden in der Kirche und im Radio, um den von Schmiergeldern beherrschten Polizeiapparat bloßzustellen. Die Korruption ist soweit vorangeschritten, dass Kriminelle kaum noch vor Gericht gestellt und stattdessen auf offener Straße von Polizisten ohne Prozess exekutiert werden. Der Polizeichef James E. Davis (Colm Feore, 24: Redemption) hat die Parole ausgegeben, härter gegen das organisierte Verbrechen vorgehen zu wollen. Doch das ist nur ein scheinheiliger Vorwand. In Wahrheit ist es die Polizei selbst, die von den mafiösen Strukturen am meisten profitiert und ihre Macht dabei schamlos ausnutzt. Das bekommt auch Christine Collins zu spüren. Gerade mit weiblichen Problemfällen machen die Cops kurzen Prozess. Es reicht eine Unterschrift, um aufmuckende Frauen in eine Nervenheilanstalt einweisen zu lassen.

    Fazit: „Der fremde Sohn“ ist ein starkes Drama über Mutterliebe und Korruption. Am Einzelschicksal einer alleinerziehenden Mutter wird glaubhaft erläutert, welche mitunter absurden, aber deshalb nicht minder schrecklichen Folgen Korruption haben kann. Dank der großartigen Regie, den faszinierenden Bildern und den ausgezeichneten Darstellerleistungen gehört neue Clint Eastwood definitiv zu den sehenswertesten Filmen des Kinofrühjahrs.

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