In der Regel reflektieren junge Filmemacher in ihren Debüts oft die eigene Jugendzeit und stützen sich auf selbst gemachte Erfahrungen, meist aus den Bereichen Liebe und Freundschaft. Oder sie verpacken ihre Stoffe in experimentelle, scheinbar innovative Erzählformen, die tiefer gehende Einsichten überschatten und die Filme an der Oberfläche treiben lassen. Jan Bonny hingegen macht bei seinem Debüt alles richtig und erzählt in dem Drama „Gegenüber“ eine schwierige Geschichte, für die er eine überaus passende Form findet. Zu Recht wurde er dafür mit einer lobenden Erwähnung beim diesjährigen Filmfestival in Cannes geehrt; das Drehbuch erhielt eine Auszeichnung auf dem Filmfest München.
„Gegenüber“ erzählt die Geschichte einer scheiternden Ehe, in der verkrustete Konflikte immer wieder mit unerbittlicher Konsequenz ausbrechen. Der Polizist Georg (Matthias Brandt) und die Grundschullehrerin Anne (Viktoria Trauttmansdorff) sind die Eltern zweier Kinder, die schon aus dem Haus sind. Unausgesprochene Konflikte dominieren die Ehe der beiden, in einem emotionalen Dauerausnahmezustand stehen die Partner sich gegenüber. Ihren Frust entlädt Anne, indem sie Georg schlägt. Er liegt resigniert am Boden, sie schlägt immer wieder auf ihn ein. Es ist wohl die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit, die Anne treibt. Sie steht im Schatten ihres übermächtigen Vaters, deren Anerkennung sie verzweifelt sucht. Georg dagegen lebt in sich zurück gezogen, spricht kaum und gibt Anne nicht die Beachtung, die sie vermisst. Die beiden Kinder leben ihr eigenes Leben und bleiben auch in der Dramaturgie nur Randfiguren, Gespenster aus der Vergangenheit.
Die körperliche Gewalt der Frau gegen den Mann ist übrigens nur der Ausdruck der menschlichen Probleme und Abgründe, die in „Gegenüber“ verhandelt werden und bildet nicht den wesentlichen Kern des Films. Dennoch ist es interessant, dass dieses schwierige und von der Gesellschaft tabuisierte Thema aufgegriffen wird. Das gibt Bonny die Gelegenheit, den Konflikt auf die beiden Protagonisten zu konzentrieren, denn nach außen tragen können sie diese Situation ohnehin nicht. Die Dunkelziffer ist bei häuslicher Gewalt bekanntlich sehr hoch, kaum ein Fall wird zur Anzeige gebracht. Dass Georg Polizist ist, gibt dieser Schieflage eine bittere Einsicht. Und Anne erst, die Grundschullehrerin!
Bonny konzentriert sich beim Erzählen ganz auf seine beiden Hauptfiguren und bleibt immer sehr dicht an deren Konflikt. Dabei gelingt ihm das Kunststück, seine Figuren nicht bloßzustellen, sondern den Zuschauer auf eine Weise in die Geschichte einzubeziehen, die weder zu viel, noch zu wenig Distanz schafft und ein unmittelbares Erleben der Charaktere ermöglicht. Das funktioniert vor allem auch dank der großartigen Leistungen der beiden Hauptdarsteller Matthias Brandt und Victoria Trauttmansdorff. Beide lassen den Betrachter nie an der „Authentizität“ der Bilder zweifeln und ermöglichen Jan Bonny seine Geschichte als Kammerspiel zu inszenieren, mit reduzierten Drehorten und einer zurück genommenen äußeren Rahmenhandlung. Das Drehbuch von Bonny und Cristina Ebelt trägt darüber hinaus einen großen Teil zum Gelingen des Projekts bei. Seitenpfade der Handlung werden oft nur kurz angerissen, trotzdem plausibel gemacht und nie zur Schau gestellt oder ausgewalzt. Zum Beispiel das Pflegekind, das Anne unter ihre Fittiche nimmt oder die Eindrücke von ihrem Job als Lehrerin. Beides wird nur kurz eingeführt und entfaltet dennoch eine große Wirkung.
Ein weiterer Pluspunkt des Films ist sein ausgereifter Stil, der Überschneidungen mit der Berliner Schule aufweist, durch dieses Etikett allerdings nur unzureichend beschrieben werden kann. Bonny findet gemeinsam mit Kameramann Bernhard Keller genau den richtigen Ton für die Bilder. Die sind unaufdringlich, oft trist und dunkel. In einem Interview legt Bonny das Vorhaben offen, einen „privaten Blick“ auf seine Figuren zu eröffnen. Also keinen dokumentarischen, der vom Kern her schon ein „Draufgucken“ impliziert, und auch keinen übermäßig stilisierten, künstlichen Blick, der sich zwischen Zuschauer und Figuren stellt. Das ist ihm ohne Abstriche gelungen, was von einem großen Gespür für das Filmische zeugt. Gerade wenn man bedenkt, dass Bonny Werbefilme gedreht hat, die für ihre durchgestylten Bilder bekannt sind, tritt sein Wille zur eigenen Handschrift deutlich zu Tage. Während andere Ex-Werbefilmer, wie beispielsweise David Fincher, in ihren Spielfilmen eine Schauwert-Ästhetik umsetzen, lässt Jan Bonny sich in einer ganz eigenen Herangehensweise auf seine Geschichte ein.
Nach diesem atmosphärischen und in jeglicher Hinsicht überzeugendem Debütfilm wird Jan Bonny wohl noch öfter von sich reden machen. Mit nur einem Film hat er sich in der Reihe der vielversprechenden deutsche Regie-Talente etabliert, denn „Gegenüber“ ist ein ungeglätteter, ehrlicher Film, der nachhaltig im Gedächtnis bleibt. Und von dieser Sorte kann es nie genug geben.