Woody Allens „Eine andere Frau“... Wie geronnen. Es funktioniert. Jeden Tag auf’s Neue. Man ist, was man wurde. Man lebt, wie man es gelernt hat. Man denkt, wie man denkt. Das ist nichts, was in Frage zu stellen wäre. Alles ist normal, geregelt, geordnet. Anderes, Alternatives ist abwegig. Keinen Millimeter vom Pfad abweichen. Denn es scheint nur diesen eigenen Pfad zu geben. Man ist wer, irgendwie ist man wer. Man hat eine Position im Leben, im Beruf, in der Ehe.
Marion (Gena Rowlands), 50 Jahre alt, lebt in Jersey City, ist Leiterin der Philosophischen Fakultät, lehrt deutsche Philosophie und Literatur, schreibt an einem Buch, ist zum zweiten Mal verheiratet, mit Ken (Ian Holm), einem Arzt, der eine Tochter aus erster Ehe, Laura (Martha Plimpton), mit in die Ehe brachte. Mit Laura versteht sich Marion gut. Mit Ken führt Marion eine – wie man so schön sagt – funktionierende Ehe. Marion ist schön, und wie fast alle gut situierten Damen der New Yorker Gesellschaft kleidet sie sich konventionell. Um in Ruhe ihr Buch zu schreiben, hat sie sich eine kleine Stadtwohnung gemietet. Und nun geschieht etwas, was diese Normalität, dieses Eingefahrensein aus dem Gleichgewicht bringt. Marion hört über die Lüftungsschächte in der Stadtwohnung die Gespräche eines benachbarten Psychiaters mit seinen Patienten. Zuerst tut sie alles, um das zu verhindern, stellt Kissen vor den Schacht. Doch dann hört sie die Gespräche mit einer jungen, schwangeren Frau (Mia Farrow), hört, wie sie weint, von ihrer Unsicherheit, Verzweiflung erzählt. Marions Leben gerät ins Wanken; ihr Gefühlsleben, in festen Bahnen, kontrolliert, gefasst, also eigentlich ein Gefühlsleben ohne Gefühle wird attackiert, sozusagen von außen, aber doch dann eher von innen heraus. Erinnerungen tauchen auf, drängen an die Oberfläche, steigen Marion zu Kopf, verlassen sie nicht mehr. Erinnerungen an die Kindheit, ihren Bruder, ihre Eltern, ihre beste Freundin, die sie schon lange nicht mehr gesehen hat.
„I wondered if a memory is
something you have or
something you've lost.“
(Marion)
Woody Allen stellt diese Marion ganz ins Zentrum seines Dramas „Eine andere Frau“. Und es ist nicht zufällig, dass wir uns mit ihr identifizieren, ja identifizieren müssen. Marion, obwohl aus dieser berühmten, fast schon zum Klischee geratenen Schickeria stammend, ist ein bisschen wie wir alle, ein Mensch zwischen innerer Anpassung und Rebellion, aber in dieser Spannbreite menschlichen Verhaltens ganz auf der Seite der Anpassung. Und wer anders, fragt man sich nach dem Film, hätte diese Marion besser spielen können als Gena Rowlands. Es sind die Erinnerungen, die dieses Bild und Selbstbild, erst langsam, doch dann immer deutlicher erschüttern, ein Selbstbild, das scheinbar so wunderbar zur selbst geschaffenen Realität passt, ein angepasstes Bild und eine bildhafte, bilderbuchartige Anpassung. Und in der Erinnerung verändert sich das Erinnern. Selbst das Festgefügte der Erinnerung, das zum Kanon des Lebens zu passen scheint, verliert sich.
Marions Kindheit. Beim Besuch ihres Vaters und bei einem zufälligen Treffen mit ihrer Schwägerin Lynn (Frances Conroy) erinnert sie sich an ihren Bruder Paul (Harris Yulin), daran, wie ihr Vater (John Houseman) immer sie bevorzugt hatte, während Paul gezwungen wurde, in einer Pappkartonfabrik zu arbeiten. Noch heute schimpft der Vater auf Paul, der sich immer wieder durch Spekulationsgeschäfte verschuldete. All dies nimmt Marion erst jetzt richtig wahr – auch, dass sie ein völlig falsches Bild von ihrer besten Jugendfreundin Claire (Sandy Dennis) hat, die sie zufällig nach Jahrzehnten wieder trifft, als sie der jungen Frau aus der Praxis des Psychiaters folgt. Claire reagiert zurückhaltend, dann aggressiv, wirft Marion vor, ihr ihren Jugendfreund ausgespannt zu haben.
In die Erinnerungen mischen sich Phantasien, etwa dass ihr Vater bei dem besagten Psychiater in Behandlung ist, bereut, dass er zu streng mit Marion war und Paul falsch behandelt, zu wenig geliebt habe. Und dass er nicht mit der Frau verheiratet war, die er wirklich geliebt habe. In einem anderen Traum sieht sie ihren ersten Mann Sam (Philip Bosco), der kein Kind wollte, das Marion sich so sehnlichst gewünscht hatte. Und sie erinnert sich an Larry (Gene Hackman), der Marion liebte, der erkannte hatte, in welche Tretmühle sie in ihrer Ehe mit Ken geraten war, und den sie zurückgewiesen hatte.
Paul: „Do you remember some
years ago when I showed you
something I'd written, do you
remember what you said?“
Marion: „No, I don't remember.
I was probably just trying to be truthful.“
Paul: „Yes, I'm sure. You said,
This is overblown, it's too emotional,
it's maudlin. Your dreams may be
meaningful to you, but to the
objective observer, it's just so
embarrassing.’“
Marion: „I said that?“
Paul: „Exactly your words. So
I tried not to embarrass you any more.“
Und schließlich phantasiert Marion, dass der Psychiater (Michael Kirby) zu der jungen Frau – sie heißt Hope – sagt, ihr Leben sei ausschließlich vom Verstand diktiert. Als Marion erfährt, dass Ken ein Verhältnis zu einer Freundin des Paares namens Lydia (Blythe Danner) hat, trennt sie sich von Ken. Und zum ersten Mal in ihrem Leben, so weit sie sich erinnern kann, fühlt sich Marion mit sich selbst versöhnt.
Vieles an Allens „Eine andere Frau“ erinnert, darauf ist oft hingewiesen worden, an Bergmans Filme. Aber davon einmal abgesehen, zeichnet sich das Werk vor allem durch die bestechende Kraft seiner Hauptdarstellerin aus. Gena Rowlands, die ähnliche Rollen schon in den Filmen ihres 1989 verstorbenen Mannes John Cassavetes verkörpert hatte, spielt eine Frau, deren Welt aus den Fugen bricht, ohne dass sie selbst zusammenbricht. Man könnte meinen, es sei vor allem die materiell abgesicherte Situation einer solchen Frau, die einen derartigen Zusammenbruch verhindert hätte. Aber dem ist nicht so. Allen gelingt eine Inszenierung, in der Marion allmählich zweierlei erfühlen kann: Zum einen ihr defizitäres, vom „kalten“ Verstand allein diktiertes Leben, damit verbunden das Bewusstsein über ihre vertanen Chancen. Aber zugleich spürt sie auch die enorme innere Kraft in sich, die es ihr ermöglicht, diesen Verstand anders zu benutzen und ihre Gefühlswelt aus dem selbst gewählten und zugleich anerzogenen Gefängnis zu befreien. Diese innere Versöhnung, das zeigt Allen vor allem, wird es Marion ermöglichen, sich auch mit ihrer Vergangenheit und den Personen dieser Vergangenheit, z.B. ihrem Bruder, zu versöhnen.
Ein kraftvoller und gleichzeitig ruhiger, besonnener Film, der sicherlich zu den besten Allens gehört.