„Interstellar“ ist nicht gerade ein Schnellschuss. Erste Pläne zu dem Science-Fiction-Epos gab es bereits 2006, damals war noch Steven Spielberg für die Regie vorgesehen. Ein Jahr später wurde Christopher Nolans Bruder Jonathan angeheuert, um das Drehbuch zu schreiben, doch auch nachdem Spielberg längst ausgestiegen war, sollte es bis 2012 dauern, bis jemand auf die naheliegende Idee kam, den „Inception“- und „The Dark Knight“-Regisseur selbst auch mit ins Boot zu holen. Von diesem Moment an haben viele Fans ein zweites „2001 - Odyssee im Weltraum“ oder besser noch die filmische Quadratur des Kreises erwartet - nicht mehr und nicht weniger. Und auch wenn „Interstellar“ diesem Anspruch nicht ganz standhält, fügt der Meisterregisseur seiner Filmografie doch einen ebenso einzigartigen wie unerwarteten weiteren Meilenstein hinzu: eine sakrale Weltraum-Oper, in der große Gefühle wichtiger sind als bahnbrechende Effekte. Obwohl es um nichts weniger als den Überlebenskampf der Menschheit geht, legt Nolan seinen Film zunächst als intimes Familiendrama an, um schließlich in der zweiten Hälfte buchstäblich in neue Dimensionen vorzustoßen: Er erkundet die Rätsel des Universums und überwältigt dabei mit grandiosen Bildern und einer Emotionalität, die man aus seinen Werken bisher kaum kannte.
In der nahen Zukunft: Die Menschheit stirbt. Langsam, aber scheinbar unausweichlich. Das Klima hat sich verändert, die Nahrungsmittel werden immer knapper, Wissenschaft und Staat sind auf dem Rückzug. Wer überleben will, wird Farmer. Der zweifache Vater und Witwer Cooper (Matthew McConaughey) bewirtschaftet mitten im Nirgendwo des amerikanischen Korngürtels riesige Maisfelder, um seine Kinder Murph (Mackenzie Foy) und Tom (Timothée Chalamet) sowie seinen Schwiegervater Donald (John Lithgow) zu ernähren. Doch Cooper hasst es, Farmer zu sein, er ist Ingenieur und flog früher für die NASA Raumschiffe. Ein unerklärliches Phänomen bringt ihn und seine zehnjährige Tochter einem Geheimnis auf die Spur: NORAD, das US-Luft- und Weltraum-Verteidigungskommando, existiert entgegen der allgemeinen Annahme noch. Unter Leitung von Professor Brand (Michael Caine) arbeiten Regierung und NASA verborgen unter der Erde an einem Plan, die Menschheit zu retten. Cooper schließt sich der Mission an, die Richtung Saturn aufbricht, um dort durch ein Wurmloch in eine andere Galaxie vorzustoßen und nach neuen Kolonien zu suchen. Mit an Bord sind Wissenschaftler und Astronauten: Brands Tochter Amelia (Anne Hathaway), Doyle (Wes Bentley) und Romilly (David Gyasi). Schweren Herzens lässt Cooper seine Familie zurück: Er weiß, dass es für ihn kaum eine Rückkehr geben wird.
Christopher Nolan bleibt sich in „Interstellar“ treu und setzt zugleich neue Akzente. Wie immer verzichtete der Brite auf den bei Produktionen dieser Größenordnung fast obligatorischen 3D-Zuschlag - und er drehte auf klassischem 35- sowie 70-Millimeter-Material, was er mit imposanten IMAX-Aufnahmen ergänzte. Die damit verbundenen Formatwechsel sind für den Regisseur und seinen IMAX-erfahrenen Kameramann Hoyte van Hoytema („Her“, „Space Station“), der Nolans zur Drehzeit mit seinem eigenen Regiedebüt „Transcendence“ beschäftigten Stammpartner Wally Pfister ersetzt, keineswegs eine Spielerei. Vielmehr erschaffen sie sorgfältig komponierte Bilder, die bei allen beeindruckenden Schauwerten (von den gigantischen Staubstürmen auf der Erde zu Beginn über einige hochspannende Actionsequenzen bis hin zum ekstatischen Finale) auch eine große Natürlichkeit besitzen: Es ist kein Zufall, dass „Interstellar“ insgesamt etwas weniger stilisiert daherkommt als die vorigen Filme des Regisseurs, denn das Herzstück ist hier eindeutig die hochemotionale Geschichte. Letztlich steckt in „Interstellar“ genauso viel von dem Gefühlskino nach Art von Steven Spielberg wie von den kühnen kinematographischen Weltentwürfen eines Stanley Kubrick, mit denen Nolan sonst eher in Verbindung gebracht wird.
In allererster Linie ist die 165-Millionen-Dollar-Produktion „Interstellar“ jedoch natürlich von der Filmemacherpersönlichkeit Christopher Nolan geprägt, die ihr erzählerisches Ziel wie stets von Beginn an klar vor Augen hat. Im ersten Drittel der satten 169 Minuten Spielzeit widmet der Regisseur sich dem Unterbau seiner Story, die Figuren werden ausführlich eingeführt, ohne dass dabei bereits tiefschürfende Charakterstudien entstünden: Hier streut Nolan die Saat aus, die er im letzten Akt des Films umso eindrucksvoller erntet. Zu Beginn werden die Grundkonflikte mit aus Familiendramen und Katastrophenfilmen bekannten Motiven und Versatzstücken etabliert, später hebt der Film dann gleichsam ab und gewinnt auf dem Weg zu seiner finalen Bestimmung immer mehr an Klasse und Intensität. Spät, aber nicht zu spät entfaltet „Interstellar“ einen wahren Sog von Bildern und Ideen – nun bringt Nolan das Kleine und das Große, das Private und das Kollektive, das Irdische und das Kosmische zusammen und stellt vor dem Hintergrund seiner intimen Geschichte existenzielle Fragen: Was war vor dem Urknall? Wo endet unser Universum?
Am prägnantesten gelingt das Zusammenspiel von Ideen und Gefühlen beim Umgang mit dem Phänomen der Zeit, die bekanntlich relativ ist: Während Cooper und seine Mannschaft in entfernten Galaxien Stunden verbringen, vergehen auf der Erde teilweise ganze Dekaden. Schon dieser Gedanke allein ist schockierend, wenn Nolan uns dann aber in einer herzzerreißenden Szene mit den konkreten menschlichen Folgen dieser Relativität konfrontiert, dann bekommt er eine unerhörte emotionale Resonanz. Da genügt dann eine einzige ausgedehnte Großaufnahme von Matthew McConaugheys Gesicht beim Anblick seiner um ein Vielfaches schneller gealterten Filmkinder, um den ganzen Schmerz, die Trauer und das Empfinden der eigenen Winzigkeit angesichts der Gleichgültigkeit des Universums zum Ausdruck zu bringen. Hier geht es eben nicht darum, ein filmisches Proseminar in theoretischer Physik abzuhalten, dennoch nimmt Nolan die wissenschaftlichen Grundlagen seiner Geschichte spürbar ernst. Er stützt sich genauso wie übrigens schon Carl Sagan (Roman) und Robert Zemeckis (Film) in „Contact“ auf die Wurmloch-Theorien von Kip Thorne und gibt dem Publikum ähnlich wie schon bei „Inception“ in simplen Worten die wichtigsten Informationen an die Hand, ohne seinen Film zu überfrachten.
Menschen in Raumschiffen, fremde Planeten und unbekannte Gefahren: Die Szenen außerhalb unserer Galaxie inszeniert Christopher Nolan angenehm organisch, er verzichtet auf den Effekt-Overkill und lässt lieber das hervorragende Produktionsdesign mit seinen immer wieder wechselnden Sets sowie Hans Zimmers hypnotische Musik zur Geltung kommen. Und wenn „Interstellar“ schließlich zu einer geradezu orgiastischen Space-Oper wird, der Fluss der Bilder und Gedanken nicht mehr zu stoppen ist und sich uns immer neue Welten öffnen, dann lässt der Film endgültig auch alle rationalen Einwände gegen seine Erzählstruktur oder seine wissenschaftliche Stichhaltigkeit hinter sich. Da ist dann selbst das wacklige raumfahrttechnische Fundament der Erzählung letztlich nur eine Randnotiz: Ein paar Regierungs- und NASA-Nerds tüfteln versteckt unter der Erde jahrelang im Geheimen an Hochtechnologie, die dem heutigen Wissen meilenweit voraus sein müsste, um auch nur ansatzweise zum Erfolg zu führen – allerdings ohne einen Apparat von zehntausenden Mitarbeitern und ohne Millionen-Budget. Solche Schönheitsfehler nimmt man am besten mit Humor – auch den gibt es in „Interstellar“ über die beiden Roboter-Figuren TARS und CASE (Stimme: Bill Irwin).
Nolans Absicht, die Figuren in den Mittelpunkt zu stellen und damit die menschliche Dimension seines Raumfahrttrips zu betonen, zeigt sich auch an der ebenso prestigeträchtigen wie hochklassigen Besetzung. Ihr gehören mit Matthew McConaughey, Anne Hathaway, Michael Caine, Ellen Burstyn und Matt Damon gleich fünf Oscar-Preisträger an, hinzu kommt weitere Prominenz wie Casey Affleck und John Lithgow. Der All-Star-Cast besticht durch erstaunliche Homogenität, am deutlichsten ragt tatsächlich der Hauptdarsteller heraus. McConaughey spielt Cooper in der bisher besten Phase seiner Karriere überzeugend und charismatisch als sympathischen amerikanischen Jedermann, der wie ein Löwe für seine Familie kämpft (und nebenbei auch ein Wissenschafts- und Raumfahrtass ist). Die Vater-Tochter-Beziehung zwischen Cooper und der von Mackenzie Foy („Conjuring“) und später von der wieder einmal exzellenten Jessica Chastain („Zero Dark Thirty“) gespielten Murph, ist der Dreh- und Angelpunkt des Films und am Ende sind es die ganz unmittelbar menschlichen Fragen, die in diesem Weltraumepos am längsten nachhallen: Steht das Wohl des Einzelnen über dem der Gesamtheit? Würdest du die Familie opfern, um die Menschheit zu retten?
Fazit: Christopher Nolan präsentiert sich in seinem irgendwo zwischen „2001“, „A.I.“, „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ und „Gravity“ angesiedelten Sci-Fi-Opus „Interstellar“ nicht nur als Kinovisionär, sondern vor allem auch als warmherziger Erzähler. Meisterwerk-Niveau erreicht er indes nicht ganz.