1999 eröffnete Kutluğ Ataman die Berlinale-Sektion Panorama mit seinem Aufsehen erregenden Außenseiterdrama „Lola und Bilidikid“. Der Film des türkischen Regisseurs und Installationskünstlers gewann dann nicht nur den Spezialpreis der Berlinale-Jury, sondern avancierte als sensible Milieustudie über das homosexuelle Erwachen eines türkischen Migrantensohnes auch zu einem internationalen Festivalerfolg. Mit seiner jüngsten Regierarbeit „Kuzu – The Lamb“ kehrt Ataman 2014 zur Berlinale zurück und präsentiert ein humorvoll gefärbtes Familiendrama über die ökonomischen und emotionalen Missstände einer kleinen Familie, die unter dem Druck ihrer anatolischen Dorfgemeinde zu zerbrechen droht. Atmosphärische Bilder malerischer Einöden, eine gute Besetzung und der liebevoll-satirische Blick übertünchen dabei die etwas klischeehaften Figuren und eine etwas zu berechenbar und konventionell geratene Handlung, deren finale Pointe über die vorangegangenen Längen nicht ganz hinweg trösten kann.
Die Familien eines kleinen Dorfs in Ostanatolien bereiten sich auf die rituelle Beschneidungszeremonie ihrer jüngeren Söhne vor. Auch der kleine Mert (Mert Tastan) wird von Vater Ismail (Cahit Gök) und Mutter Medine (Nesrin Cavadzade) auf den großen Tag vorbereitet. Doch während sich Medine nichts mehr wünscht als ein großes Festmahl für die Dorfbewohner, hadert der in einer Fleischfabrik tätige Tagelöhner Ismail mit den hohen Kosten einer solchen Feierlichkeit. Während sich der Vater unter den Vorwürfen seiner nörgelnden Schwiegermutter den Kopf über das Geld zerbricht und die Mutter versucht, durch das Sammeln von Weidenruten zusätzlich Geld zu verdienen, macht sich Merts Schwester (Sila Lara Cantürk) einen Spaß daraus, ihrem jüngeren Bruder einzureden, dass man ihn auf seiner Feier verspeisen werde. Denn sollte ihr Vater sich kein Lamm für das Fest leisten können, so bliebe ihnen nichts anderes übrig, als das „Lämmchen“ Mert zu schlachten und für die Gäste zuzubereiten. Panisch vor Angst macht sich der bockige Mert auf, in der Umgebung ein Lamm aufzutreiben, um sein eigenes Ehrenfest zu überleben…
Komplett in der türkischen Provinz Erzincan gefilmt, hat Kutluğ Ataman seinen Film mit bekannten Gesichtern des türkischen Kinos besetzt: Cahit Gök („Güzel Cirkin“), Nesrin Cavadzade („Yangin Var“) und Nursel Köse („Auf der anderen Seite“). Allerdings liegt in der Besetzung der deutsch-türkischen Kabarettistin Köse in der Rolle einer Femme Fatale, der Ismail bald manisch verfällt, auch eines der Probleme, da es die Schauspielerin nicht schafft, die Beziehung ihrer Figur glaubhaft zu gestalten. Negativ verstärkt wird dies, weil der unzuverlässige Familienvater, der vor seiner Verantwortung flieht und Zuflucht in den Armen einer Hure sucht, und die berechnende, kaltherzige Ehebrecherin, die langsam Mitleid entwickelt, allzu stark der Klischeekiste entnommen zu sein scheinen.
Während Nesrin Cavadzade als betrogene Ehefrau überzeugt und sich bald als heimliche Heldin der Geschichte herausstellt, bleibt Cahit Gök nur die Rolle des geistig abwesenden Mannes, der in dekorativer Einsamkeit durch die kalten, verschneiten Landschaften der Umgebung wandelt, um sich nur nicht mit seiner fordernden Familie zu befassen. Die besten Szenen des Films gehören allerdings den zwei grandiosen Kinderdarstellern: Mit beachtlichem Feingefühl für kindliche Gemeinheiten porträtiert Kutluğ Ataman die Frechheiten und Ängste zweier Knirpse, die im kargen Gebirge Anatoliens toben und dabei über Leben und Tod, Lamm-Sein oder -Nichtsein sinnieren. Hätte man doch den wunderbar grimmig blickenden Mert Tastan und die lebhafte Sila Lara Cantürk ins Zentrum des Films gestellt und die einfache, aber ansprechende Geschichte nur aus der Kinderperspektive erzählt, wäre wohl ein weit organischerer, weniger zerfahrener Film entstanden.
Fazit: Trotz Klischees und unzureichend ausgearbeiteten Figuren bleiben von Kutluğ Ataman „Kuzu – The Lamb“ die einprägsamen Gesichter der Schauspieler, die stimmungsvolle Kameraarbeit und die liebevoll-kritische Skizze einer an antiquierten Ideen festhaltenden türkischen Dorfgemeinschaft sehr positiv in Erinnerung.
Dieser Film läuft im Programm der Berlinale 2014. Eine Übersicht über alle FILMSTARTS-Kritiken von den 64. Internationalen Filmfestspielen in Berlin gibt es HIER.