Auch mit 62 Jahren ist Arthouse-Starregisseur- und Dokumentarfilmer Werner Herzog nicht ruhiger geworden. Der Münchner ließ sich nicht davon abschrecken, dass sein Kinofilm-Comeback „Invincible“ 2002 bei Kritik und Publikum durchfiel. Mit nimmermüdem Elan und dem berühmt-berüchtigten Fanatismus realisierte Herzog sein neuestes Doku-Projekt „The White Diamond“, in dem er seine Affinität zum Dschungel und großem Drehrisiko wieder leidenschaftlich ausleben konnte. Das Ergebnis ist eine ur-typische abenteuerliche Herzog’sche Qualitätsproduktion fernab von drögem Wissenschafts-TV.
Seit dem Ende der legendären Zusammenarbeit mit seinem Alter Ego Klaus Kinski im Jahr 1987 hat sich Regisseur Werner Herzog mehr und mehr auf seine Passion, den Dokumentarfilm festgelegt. Mit „Schrei aus Stein“ (1991) und „Invincible“ (2002) drehte der Exzentriker lediglich zwei Kinospielfilme in den vergangenen 17 Jahren. Kritiker warfen ihm vor, schon beim letzten Kinski-Film „Cobra Verde“ (1987) künstlerisch ausgebrannt zu sein, was Herzog auch nicht leugnete. Aber seine Energie ist allerdings noch lange nicht erloschen. Nach einigen kleineren Doku-Projekten gelang ihm 1999 mit der Kinski-Hommage „Mein liebster Feind“ ein glanzvolles, gefeiertes Comeback. Auch seine Dalai-Lama-Dokumentation „Rad der Zeit“ (2003) kam bei der internationalen Kritik bestens an. Sein aktuelles Werk „The White Diamond“ könnte nicht typischer für seine Arbeitsweise sein.
Vor zehn Jahren warf eine Tragödie den englischen Luftfahrt-Ingenieur Dr. Graham Dorrington aus der Bahn. Der deutsche Tier- und Naturfilmer Dieter Plage stürzte mit dem von Dorrington konstruierten Luftschiff The White Diamond bei waghalsigen Dreharbeiten im Dschungel von Sumatra ab und kam auf grauenhafte Art und Weise ums Leben. Nachdem sich Plage mit dem technisch nicht ausgereiften Fluggerät in der Krone eines 50 Meter hohen Baumes verfing, brach es wenig später auseinander und der Kameramann stürzte zu Boden, stach sich ein Auge aus, überlebte aber zunächst schwer verletzt. Erst beim Versuch des Abtransports erlag er seinen schweren Verletzungen. Von diesem Unglücks-Trauma hat sich Dr. Dorrington nie vollständig erholt. Herzog reanimierte Plages Expedition wieder und veranlasste den Konstrukteur, ein neues, weiterentwickeltes Luftschiff zu bauen, um damit sanft und präzise wenige Meter über den Baumwipfeln des Dschungels im südamerikanischen Guyana zu schweben. Aus dieser atemberaubenden Perspektive gab es bisher noch keine bewegten Bilder. Doch die Konstruktion des fragilen heliumgefüllten Mini-Zeppelins machte auch bei der Neuauflage große Probleme.
Herzog beginnt „The White Diamond“ mit einer Rückschau auf die Geschichte der Zeppelin-Luftfahrt, um dem Zuschauer den thematischen Hintergrund zu liefern. Bevor es aber in den Dschungel geht, referiert Ingenieur Dorrington über die Fertigung des neuen White Diamonds, dessen Name sich übrigens von der Form des Fluggeräts ableitet. Die einfache Dokumentation des Prozesses wäre Herzog jedoch viel zu langweilig, ihn interessiert viel mehr die angeschlagene Psyche des Wissenschaftlers, der immer noch im Zweifel ist, das Richtige zu tun. Herzog schafft es durch seine Fragetechnik, das Seelenleben des Engländers nach und nach offen zu legen, wendet auch hier wieder seinen bewährten Kniff an, der schon Urgestein Reinhold Messner in der Bergsteiger-Doku „Gasherbrum – Der leuchtende Berg“ in die Knie zwang. In einer Einstellung ist Dorrington mit seiner wissenschaftlichen Antwort eigentlich am Ende, doch Herzog bleibt mit der Kamera auf ihm drauf, bohrt gnadenlos weiter und nach kurzer verlegener Wartezeit beginnt der Ingenieur Innenansichten Preis zu geben. Für den philosophischen Kontext sorgt ein einheimisches Crewmitglied, das über die Einzigartigkeit und Schönheit der Natur referiert.
Die Dreharbeiten im Dschungel von Guyana verliefen ähnlich chaotisch wie bei der Ur-Expedition. Trotz der Neuentwicklung stand jeder Flug unter akuter Lebensgefahr der Passagiere. Beispielhaft für Herzogs Einstellung und Arbeit ist ein ernster Dialog, den er mit dem Konstrukteur hielt. Dorrington wollte das Fluggerät zunächst allein testen, da er nicht für die Sicherheit anderer garantieren konnte. Natürlich war es Herzog egal, dass er sich ebenfalls in große Gefahr begab. Vielleicht sei es der einzige Flug - und die Möglichkeit, dabei Bilder zu filmen, dürfe nicht verschenkt werden. Es kam, wie es kommen musste. Alles, was schief gehen konnte, ging schief. Der Heckmotor drehte sich in die falsche Richtung und sorgte dafür, dass The White Diamond notlanden musste und knapp einem Absturz entging. Bei den nächsten Flugversuchen ging die Sicherheit vor, der schwebende Zeppelin wurde an langen Seilen festgemacht. Der Ausdauer und dem Mut aller Beteiligten ist es zu verdanken, dass es am Ende doch noch spektakuläre Bilder von den Gipfeln des Urwaldes gab.
Mit „The White Diamond“ stellte Regiestar Werner Herzog wieder sein Talent für außergewöhnliche Dokumentationen unter Beweis. Wie üblich ist der kompromisslose Filmer ab und an im Bild zu sehen und spricht den sympathisch-fatalistischen Off-Kommentar diesmal in Englisch. Aber erst die kleinen Geschichten abseits die Weges, denen Herzog nachgeht, machen den Film den Film so interessant und sympathisch, weil so ein Gesamtkontext entsteht. Gedreht wurde im handlichen digitalen High-Definition-Format, um das Filmen auf dem Zwei-Mann-Fluggerät zu ermöglichen. Für Fans der Autorenfilmer-Legende ist diese Verwebung von Chronistentum und seelischem Drama unverzichtbar. Wer sich für eine spannende und ungewöhnliche Dokumentation interessiert, wird an „The White Diamond“ ebenfalls seine Freude haben.