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    Naked Lunch – Nackter Rausch
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Naked Lunch – Nackter Rausch
    Von Björn Helbig

    Riesige Käfer, sprechende Schreibmaschinen, Drogen aus Insektengift und Rauschmittel, die direkt aus den Köpfen von missgebildeten Wesen abgezapft werden – David Cronenberg hat sich mit „Naked Lunch" an die Verfilmung eines als unverfilmbar geltenden Buches gewagt: William S. Burroughs' gleichnamigen Kultroman aus dem Jahre 1959. Das Ergebnis ist ein vielschichtiger, aber nicht gerade leicht zu entschlüsselnder Leinwandtrip.

    Der Schriftsteller William Lee (Peter Weller) verdingt sich als Kammerjäger. Während eines Drogenrausches, hervorgerufen durch die Substanz, mit der er sonst auf Insektenjagd geht, erschießt er versehentlich seine Frau Joan Lee (Judy Davis). In der Folge entgleitet William sein Leben völlig. In der Grenzwelt „Interzone" agiert er als Agent und muss sich plötzlich in einem kaum zu durchschauenden Gewirr aus Junkies, Drogenhändlern, Spionen und seltsamen Wesen zurechtfinden. Er rutscht immer weiter in die Abhängigkeit hinein und macht Bekanntschaft mit Joan Frost (ebenfalls Judy Davis), die seiner verstorbenen Frau zum verwechseln ähnlich sieht...

    „Now, repeat after me: Homosexuality is the best all-round cover an agent ever had!" - Bills Schreibmaschine

    Der amerikanische Schriftsteller, Sozialphilosoph und Künstler William Seward Burroughs wurde 1914 in St. Louis, Missouri, geboren. Er starb 1997 in Kansas. Zusammen mit Allen Ginsberg und Jack Kerouac gehört Burroughs zu den wichtigsten Autoren der Beat Generation. Wichtige Werke neben seinem berühmtesten Roman „Naked Lunch" (1959) sind „Junkie" (1953), „Exterminator" (1973) und „Queer" (1985). Ebenfalls bedeutsam ist seine Nova-Trilogie („The Soft Machine", „The Ticket That Exploded", „Nova Express"), die mithilfe der so genannten Cut-Up-Technik verfasst wurde: Die Manuskripte wurden zerschnitten und später wieder neu zusammen gesetzt, so dass eine assoziative Erzählstruktur entstand. Diese Technik wurde zu Burroughs' Markenzeichen. Thematisch kreisen die autobiografisch gefärbten Geschichten des literarischen Enfant Terribles um die Themen Drogensucht, Gewalt und Homosexualität, was dazu führte, dass mehrere seiner Werke, so auch „Naked Lunch", in manchen US-Bundesstaaten zunächst verboten wurden.

    Dass sich der Verfilmung dieses außergewöhnlichen Stoffes ausgerechnet der auf befremdliche Themen abonnierte Regisseur David Cronenberg angenommen hat, passt wie die Faust aufs Auge. Betrachtet man das Ergebnis seiner Adaption, wird klar, warum der Kanadier sich für die Umsetzung der Vorlage begeistern konnte. Anstatt sich an einer herkömmlichen Verfilmung des literarischen Stoffes zu versuchen, widmete Cronenberg sein „Naked Lunch" lieber der Entstehung des Romans. „Nothing is true; everything is permitted" (Hassan I Sabbah), heißt es zu Beginn des Films. Dieses Zitat vermittelt dem Zuschauer bereits ein gutes Bild von den kommenden 110 Minuten. Cronenberg greift zentrale Motive aus unterschiedlichen Romanen Burroughs' auf und bringt sie mit wichtigen Stationen aus dem Leben des Schriftstellers in Verbindung. Burroughs' Biografie zumindest auszugsweise zu kennen, erleichtert ein Verständnis des Films erheblich. Der Autor, der Zeit seines Lebens abhängig von Morphium und anderen Drogen war, tötete im Rausch tatsächlich seine Frau – beim Nachstellen der Apfel-Szene aus „Wilhelm Tell". Lees Zeit in „Interzone" lässt sich in mancher Hinsicht mit Burroughs' Zeit in Tanger und Marokko vergleichen, wo er seine Zettelsammlung für „Naked Lunch" begann.

    Auch die anderen Figuren im Film sind Anspielungen auf echte Personen oder Lebensabschnitte des Autors. Die homosexuellen Motive haben ebenso autobiografische Natur. Roy Scheiders Doctor Benway rekurriert auf den britischen Arzt John Dent, der Burroughs bei der Überwindung seiner Drogensucht helfen wollte; Lees Schriftstellerfreunde Hank (Nicholas Campbell) und Martin (Michael Zelniker) stellen Burroughs' Freunde und Beatnik-Gefährten Allen Ginsberg und Jack Kerouac dar. Der Name des Protagonisten, William Lee, ist übrigens ein Pseudonym von Burroughs. Unter diesem verfasste er beispielsweise den Roman „Junkie". Doch aller Bezüge zum Trotz: „Naked Lunch" hundertprozentig dechiffrieren zu wollen, ist wahrscheinlich ein ebenso aussichtsloses Unterfangen, wie es bei David Lynchs Mulholland Drive oder Marc Forsters Stay der Fall wäre. Wer mehr über den Film und seine zahlreichen Bezüge erfahren will, findet erste erhellende Anhaltspunkte im Audiokommentar des Regisseurs auf der DVD (Arthaus Collection 44 von Kinowelt, Arthaus, Spiegel).

    „I guess it's about time for our William Tell routine." - Bill Lee

    Fest steht, dass das Ergebnis nicht nur eine äußerst interessante, quasi-biografische, halluzinogene Fiktion, sondern ebenso einer der bekanntesten, aber auch am schwierigsten zu konsumierenden Filme von Cronenberg ist. Neben Anflügen von surrealistischem Humor hebt sich „Naked Lunch" auch in anderer Hinsicht vom Oeuvre des sonst sehr trockenen Kanadiers ab. Im Vergleich zu den anderen, komplett selbstbestimmten Werken des Regisseurs ist „Naked Lunch" ein Film, der sowohl typische Cronenberg-Elemente als auch Burroughs'sche Themen enthält und so einen völlig neuen Charakter bekommt. „It would be a kind of fusion of Burroughs and me, as if we´d gotten into the telepod from ‚The Fly' together and come out of the other telepod as some creature which would not have existed separately", äußert sich Cronenberg selbst über die Beziehung von Buch und Film, welcher sich - im Gegensatz zu anderen seiner Arbeiten - eher mit dem Ist als mit dem Werden auseinandersetzt. Filme wie Rabid, Scanners oder Die Fliege drehen sich meist um eine plastisch dargestellte Verwandlung von Körper und Psyche. In „Naked Lunch" geht es zwar nicht weniger bildlich zu, doch scheint Cronenberg diesmal mehr an einer Zustandsbeschreibung als an einem Transformationsszenario interessiert gewesen zu sein. „Naked Lunch" wirkt wie eine Vivisektion von Burroughs' Schaffen am lebendigen Werk.

    Doch der Film ist noch aus einem weiteren Grund hochinteressant. „Naked Lunch" wird aus einer absolut subjektiven Perspektive erzählt. Es gibt keine Außenansicht, an keiner Stelle wird dem Zuschauer erlaubt, hinter die Wahrheit der Bilder zu blicken. Nicht viele Filmemacher haben den Mut, so konsequent aus der Innenperspektive ihrer Figuren zu erzählen und den Zuschauer im Vagen zu lassen. Diese Art der Auseinandersetzung mit Idealismus und konstruktivistischen Theorien lässt sich seit Videodrome in den Arbeiten von Cronenberg verfolgen. In dieser erkenntnisskeptischen Orientierung stellt „Naked Lunch" (Drogen) ein wichtiges Bindeglied zu späteren Filme wie „eXistenZ" (virtuelle Realität) und Spider (psychische Erkrankungen) dar.

    Fazit: Wie alle Filme des eigenwilligen Kanadiers ist auch „Naked Lunch" sehr körperliches Kino: Der Albtraum ist vom Wachzustand nicht zu unterscheiden, Unsichtbares wird sichtbar, Trips werden Realität und Metaphern wächst Fleisch an den Knochen. So ist Cronenberg zum wiederholten Mal ein außergewöhnlicher Film gelungen, diesmal eine ungewöhnliche Biografie, die trotz einer gewissen Exklusivität zahlreiche Bezüge zum eigenen Werk aufweist und das Cronenberg'sche Motivrepertoire weiterentwickelt.

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