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    Irreversibel
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Irreversibel
    Von Matthias Ball

    Die unmittelbaren Reaktionen der Premierengäste auf Gaspar Noés „Irreversibel“ bei den Filmfestspielen in Cannes im Jahr 2002 waren kontrovers. Vielerorts war die Rede von einem Skandalfilm, einige Kritiker verließen kurz nach Beginn entsetzt den Kinosaal. Und in der Tat, Noés zweiter Spielfilm arbeitet schonungslos mit dem eingeblendeten Slogan „Le temps détruit tout“„die Zeit zerstöre alles“. Doch Vorsicht! Die Darstellungen gehen mitunter weit über die üblichen Standards hinaus. Wer nicht bereit ist, sich auf einen derart extremen Film einzulassen, der sollte einen möglichst großen Bogen um „Irreversibel“ machen. Gerade in Frankreich, der Heimat des in Argentinien geborenen Regisseurs, wurde heftigst debattiert: Wo liegt die Grenze zwischen der Last und der Lust des Sehens? Wie weit darf ein Regisseur bei der Wahl seiner Bilder gehen? Sieht man über diese Schranke hinweg, bekommt das sonst so geschonte Kinoauge einen Film vorgesetzt, der noch lange Zeit für ein flaues Gefühl im Magen sorgen wird.

    Nach einem Streit mit ihrem Freund Marcus (Vincent Cassel) verlässt die attraktive Alex (Monica Belucci) eine Party. Ein folgenschwerer Fehler, denn Alex wird auf dem Heimweg in einer Straßenunterführung vom Zuhälter Le Tenja (Jo Prestia) vergewaltigt. Als Marcus und Alex’ Ex-Mann Pierre (Albert Dupontel) davon erfahren, machen sich die Beiden auf die Suche nach dem Täter. Im Rectum, einem düsteren Sado-Maso-Club der Schwulenszene, werden die Zwei fündig…

    In der ersten Einstellung sieht der Zuschauer einen leicht untersetzten und kaum bekleideten Mann, wie er sich mit seinem Zimmerkollegen unterhält. Beide sitzen in einem kahlen, spartanisch eingerichteten Raum. Der Mann ist eine Figur aus Gaspar Noés früheren Filmen, dem Kurzfilm „Carne“ und seinem ersten Spielfilm „Menschenfeind“ („Seul contre tous“), in denen er als Pferdemetzger auftritt. Der Schweiß auf seiner Stirn deutet bereits die psychische Verfassung an, in der sich der Mann befindet. Desillusioniert berichtet er von der inzestuösen Beziehung mit seiner Tochter, die ihn immer wieder ins Unglück gerissen hat. Die Zeit zerstöre alles, reflektiert er und blickt dabei verzweifelt auf den Boden. Nach einem weiteren Schwenk erkennt man den Ort, an dem sich beide befinden. Es ist eine Wohnung über dem Rectum, wo die Erzählung von Alex, Marcus und Pierre endet.

    Ähnlich der Technik, die nach „Betrayal“, einem Liebesdrama von David Jones, auch Christopher Nolan in seinem kopflastigen Thriller Memento verwendete, erzählt Noé die Geschichte rückwärts. In einzelnen Etappen arbeitet er sich dabei kontinuierlich vom Ende bis zum Anfang der Geschichte nach vorne. Die Sequenzen kommen dabei gänzlich ohne Schnitte aus. Ein handwerklicher Kniff um den Eindruck eines zeitlich authentischen Abschnitts zu vermitteln. Die Kamera windet sich einem Zeitstrudel, ähnlich einem Bandwurm durch die Erzählung. So auch der Name des Gesuchten, Le Tenia (Der Bandwurm), der erst Alex, dann Marcus wie ein Parasit mit der Aggression und dem Drang nach Zerstörung infiziert. Neben der Irrfahrt durch das Labyrinth des „Rectums“ intensivieren die Kamerafahrten zusätzlich das Gesehene. Wie in einem endlos erscheinenden Tunnel wirkt die Hetzjagd. Immer wieder blickt die Kamera zu beiden Seiten, fängt verstörte Blicke ein und erzeugt eine beklemmende Atmosphäre, die nervlich kaum zu ertragen ist. Schon der als Vorspann in Szene gesetzte Abspann irritiert. Eine Masse aus Wörtern kippt, unterlegt durch ein tiefes Grollen, langsam nach rechts aus dem Bild. Als ob Paukenschläge visuelle Ausrufezeichen setzen folgen die Namen der Darsteller.

    Auf der Suche nach Vergeltung begleitet den Zuschauer stets das Problem der fehlenden Erkenntnis. Was auch immer passiert: die Auswirkungen gehen der Ursache stets voraus. So wird der an sich schon erschütternde Rausch der Gewalt während des Trips durch das Rectum noch weiter verstärkt. Fragen nach einer möglichen Rechtfertigung bleiben ebenso aus, wie die emotionale Anteilnahme. Dass Marcus die falsche Person erwischt, deren Gesicht nach kürzester Zeit einer undefinierbaren Masse gleicht, unterstreicht die Sinnlosigkeit einer solchen Aktion. Die nahen Einstellungen im Tumult der mittlerweile versammelten Leute, machen ein Wegsehen unmöglich und involviert den Zuschauer unweigerlich ins Geschehen. Doch auch mit tieferem Blick in die Vergangenheit bleibt die Distanz zu Marcus aufrecht erhalten. Auf jener schicksalsgebenden Party zeigt sich Marcus unberechenbar, geistesabwesend im Alkohol- und Kokainrausch – alles Merkmale, die den Einstieg in seinen Charakter erschweren und mögliche Sympathiepunkte bereits im Keim ersticken. Durch die umgedrehte zeitliche Anordnung wird neben der Handlung folglich auch die Intensität umgekehrt. Aufgrund des Rachemotivs entsteht somit eine neue, ungewohnte Situation: Da der Zuschauer das Ende bereits zu Beginn sieht, erscheint selbst das Glück von Alex und Marcus, chronologisch noch vor der Vergewaltigung, im Schatten der Zerstörung.

    Anders als beim konventionellen Erzählkino, steht bei „Irreversible“ also vielmehr die Erzählweise im Mittelpunkt. Das Wie hat eine größere Bedeutung als das Was. Eigentliches Thema ist nicht die Geschichte der Protagonisten, es ist die Inversion von Zeit und Dasein, Zerstörung und Leben. Weder die Dialoge, noch die Charaktere sind detailliert gezeichnet. Die sind Abbild des Alltäglichen. Noé zielt mit seinen Darstellungen in erster Linie auf die Sinne des Zuschauers und regt somit unweigerlich zum Nachdenken an. „Irreversibel“ kommt einem tiefen Schlag in die Magengrube des Mainstreamkinos gleich: Radikal, laut und äußerst unbequem…

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