Martin Scorsese spricht in „Hexenkessel“ von Charakteren, die einsam leiden. Die einen anderen Weg suchen, als die Gesellschaft ihnen als den richtigen zu suggerieren versucht. Das Drama handelt von dem ungewöhnlichen Umgang mit unserem „höchsten Gut“. Es geht im Grunde darum, wie das Leben richtig geführt wird – auch religiöse Gesichtspunkte fließen hier mit ein. Das geschieht vor allem mit einer Diskussion über Werte, die hier allerdings nur indirekt durch die Hauptfigur aufgeworfen wird. Filmisch gesehen ist „Hexenkessel“ eine großartige Fundgrube für eine Inszenierung vom Feinsten. In jedem Augenblick ist sichtbar, dass einer der talentiertesten Regisseure der Gegenwart am Werk war.
Charlie (Harvey Keitel, Reservoir Dogs) lebt in Little Italy in New York. Nichts ist ihm wichtiger als seine Familie und die Leute in seinem Viertel. Heimlich führt er eine Affäre mit der epilepsiekranken Teresa (Amy Robinson), was aufgrund ihrer Krankheit niemand erfahren darf. Intensiv kümmert er sich um ihren Cousin Johnny Boy (Robert de Niro, Heat), da der einmal den Kopf für ihn hingehalten hat. Er fühlt sich ihm verbunden und hilft ihm deshalb, wo er kann. Vor allem mit den zahlreichen Schuldigern, die von Johnny Boy ihr Geld zurück haben wollen. Durch diese Hilfsbereitschaft und die Affäre ist seine Karriere nachhaltig gefährdet: Er soll von seinem Onkel ein Restaurant übernehmen, doch der ist auf Teresa und Johnny Boy gar nicht gut zu sprechen.
So führt der Alltag Charlie von einem Gewissenskonflikt zum nächsten. Er darf seine Gefühle für Teresa nicht einmal ihr gegenüber eingestehen, was zwischen ihnen zu heftigen Konflikten führt. Johnny Boy zeigt kaum Dankbarkeit für Charlies Einsatz, stattdessen spitzt er mit seinem gewagten Verhalten seine Situation stets weiter zu. Teresa wird wegen ihrer Krankheit nicht richtig akzeptiert, Scorseses Beschäftigung mit dieser fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz hat ihren Grund. Er selbst ist es, der als Kind früher mit dem gleichen Problem zu kämpfen hatte. Er litt an Asthma und musste so im Verlaufe seiner Schulzeit häufig ins Krankenhaus. Auch der Ort des Geschehens ist nicht ohne Grund gewählt: Seine Familie war 1910 aus Sizilien ausgewandert und Littly Italy war dann das Viertel, in das seine Eltern vierzig Jahre später zogen. In Amerika musste er sich so stets zwischen der eigenen familiären Kultur und der amerikanischen bewegen.
„Hexenkessel“ war nach einem Film in der Studentenzeit („I Call Fist“, 1967) die zweite Zusammenarbeit mit Harvey Keitel. Seine Präsenz ist in jeder Szene spürbar, wie er versucht, die Situationen in seine Kontrolle zu bringen, zeigt sich in Geschehen und Schauspiel. Er ist ein Held für den Zuschauer, weil er sich für andere einsetzt – Nächstenliebe kommt so zum Ausdruck. Er leidet aber an seinem Dasein, aus dem gleichen Grund. Dieser Konflikt macht die Geschichte so spannend. Ist es legitim, wenn er sich von Teresa distanzieren will, weil er Probleme für seine Karriere befürchtet? Oder sich nicht mit einer Schwarzen sehen lassen will, um kein Gerede aufkommen zu lassen?
Die große Bedeutung dieses Films für Martin Scorsese liegt auch darin, dass es sein erster großer Erfolg sein sollte. Seine persönliche Verbundenheit mit dem Thema lässt klarer werden, warum er überhaupt so viele mit seinen Filmen begeistern kann. Dass er die ersten Worte des Werks spricht, ist auf jeden Fall kein Zufall. Er kennt sich aus mit dem, was er erzählen will und gerade dies lässt seine Darstellung dann so authentisch wirken. Wenn er die wackelige Handkamera einsetzt, um den Zuschauer näher ins Geschehen einzubringen, dann fördert er damit den Realismus der Szenen hervorragend. Interessant zu wissen, ist Scorseses früherer Wunsch nach dem Priesteramt, für das er eine Prüfung nicht bestehen sollte. Als er beim Filmstudium seinen ersten Kurzfilm drehte, beschloss er, diese Faszination für Religion in das Regieführen zu stecken.
Robert de Niros Auftritte in Scorseses Filmen sollten sich später noch häufen. In ihm fand er schon in „Hexenkessel“ einen ausgezeichneten Charaktermimen, der – entgegen manchem Vorurteil – keineswegs nur Gangsterrollen zu verkörpern weiß. Den verrückten und dummen Johnny Boy transportiert er glaubwürdig auf die Leinwand. Gegenüber seinen sonstigen meist selbstsicheren Auftritten zeigt er sich hier größtenteils von einer anderen Seite. Nur ab und an fährt er aus der Haut und mimt den großspurigen Macho. Amy Robinson macht ihre Aufgabe in ihren wenigen Szenen sehr gut, mehr hat sich allerdings eben nicht.
Die Philosophie des einzelnen Leidenden sollte Martin Scorsese später immer wieder aufgreifen. Als nächstes im Meisterwerk Taxi Driver, für das er sich ebenfalls wieder de Niro an Bord holte. Mit „Hexenkessel“ schuf er ein sehr starkes Charakterdrama, dessen Story er sich vielleicht auch aus eigenen Erfahrungen zusammenschrieb. Die zeitgemäße Musikunterlegung, besonders bei actiongeladenen Szenen wie einer Schlägerei, zeichnet sich durch passende Songauswahl aus und erreicht oft durch gezielten Kontrast volle Wirkung. „Hexenkessel“ zeigte schon früh, dass von Martin Scorsese noch viel zu erwarten war und hoffentlich noch ist.