Vittula, Stadtteil von Pajala in der nördlichsten Ecke Schwedens in den 60er Jahren. Es geht ziemlich archaisch zu am dünn besiedelten Nordrand Europas, auch wenn der überflüssige Luxus einer geteerten Straße den neuen Wohlstand symbolisiert und aus der weiten Welt im Schwarz-Weiß-Fernseher Elvis Presley grüßt. Dort Kind zu sein, ist hart. Dort Jugendlicher zu sein, noch härter. Jedes Stück individuelle Freiheit muss erkämpft werden. Die von der Großmutter geerbte Bibel gegen eine Beatles-Platte einzutauschen, ist da nur ein allererster Schritt. Mikael Niemi ist in Pajala aufgewachsen und hat mit „Populärmusik aus Vittula“ einen Roman darüber geschrieben, der ein auch von der Kritik gefeierter Weltbestseller wurde. Der 1958 im Iran geborene und mit 17 Jahren nach Schweden gezogene Regisseur Reza Bagher hat ihn verfilmt. Endlich. Diese Tragikomödie ist hervorragend, weil ganz und gar und unbedingt Kino.
Es geht um die enge Freundschaft von Matti (als Kind: Niklas Ulfvarson, als Jugendlicher: Max Enderfors) und Niila (Tommy Vallikari, Andreas Af Enehielm). Um ihre Kindheit auf der Flucht vor dem brutalen Hausmeister, dem exhibitionistischen Hausierer und den Klassenkameraden und missbraucht von der großen Schwester und ihren pubertierenden Freundinnen, die auch nicht so recht wissen, wo sie in Vittula hinsollen mit ihrer Pubertät. Matti hat wohl das, was man eine glückliche Kindheit nennen könnte, Niila ganz bestimmt nicht: Sein Freiheitsdrang ist für Vittula mehrere Nummern zu groß und erst recht für seine Familie. Die ist seelisch verkümmert unter der fundamentalistisch religiösen Herrschaft der Großmutter, deren Ungeist ihn noch viele Jahre nach ihrem Tod verfolgt: die Mutter (Kati Outinen, Der Mann ohne Vergangenheit) passiv bis fast zur völligen Selbstaufgabe, der Vater (Jarmo Mäkinen) brutal und jede eigenständige Regung seines Sohnes zum Anlass nehmend, ihn mit dem Ledergürtel zu verprügeln. Zudem gehört Niila der finnischen Minderheit an. Da mag eine Esperanto-Sendung im Radio von der (heute auch schon lange wieder ad Acta gelegten) Utopie gleichberechtigter Völkerverständigung künden, in der Schule muss sich Niila sagen lassen, dass er nichts zu melden hat, solange er kein ordentliches Schwedisch spricht.
Doch der Rock ’n’ Roll hält Einzug mit besagter Beatles-Platte, und seine Kraft sprengt Gletscher. Die erste Gitarre, die sich Matti und Niila kaufen, überlebt noch keinen einzigen Tag: Niilas Vater schmeißt sie ins Feuer, obwohl sein verzweifelter Sohn bis in die Nacht vergeblich einen halben Wald Holzscheite spaltet, nur um ihm zu beweisen, dass er trotz Gitarre ganz bestimmt keine verweichlichte Schwuchtel werden würde. Aber der neue Musiklehrer aus Süd-Schweden (Björn Kjellman) ist ein verrückter Hippie mit John-Lennon-Brille, und er schafft es, seinen Schülern einen Band-Übungsraum einzurichten, weil er den Widerstand des alteingesessenen Lehrerkollegiums in einem furiosen Wettkampf bricht. Davon, dass mit „Born to be wild“ mehr gemeint ist, als die ausufernden Saufgelage ihrer Väter ohne Furcht vor Tod und Drei-Tage-Kater und ihre Macho-Rituale wie „Wer hält es am längsten in der überheizten Sauna aus, ohne zu erbrechen?“, etwas , das mehr mit Freiheit zu tun hat und dem Recht anders zu sein, davon können Matti und Niila nun ein Lied singen. Und sie tun es und rocken den Polarkreis. Niila allerdings von einer viel stärkeren Energie getrieben als Matti.
Die Freundschaft, den Ort, den Kulturkampf und seine tragikomischen Akteure inszeniert Reza Bagher mit einer ausnahmslos überzeugenden Darstellerriege laut und roh und jede Sekunde unterhaltsam. Der Film ist voller teils lakonisch komischer, häufig derb komischer Szenen, die doch immer mehr sind als nur das, weil in ihnen eine ganze Gesellschaft, ihre überkommenen Rituale und die neuen Einflüsse, denen sie ausgesetzt ist, sichtbar wird. Manchmal ist das plakativ, aber immer ist es mitreißend. Er ist voller magischer, poetischer Momente, die die karge Landschaft nördlich des Polarkreises einfangen, sie in ein phantastisches Licht rücken und in ihr Phantasie, Kraft, Angst, Verwirrung, Liebe und Freiheitsdrang seiner Protagonisten unmittelbar spürbar machen. Er ist unterhaltsam, berührend, und man will ihn gleich noch einmal sehen.