„Entgleist“: Bezeichnender könnte ein Filmtitel nicht sein, weil er genau ins Schwarze trifft. Mikael Håfströms Hollywood-Debüt geriet leider trotz sehr guten Ausgangsvoraussetzungen aus der Spur. Eine illustre Starriege spielt gegen ein hoffnungslos vorhersehbares Drehbuch an, das nicht eine einzige Überraschung parat hält. Bei einem auf Hochspannung ausgelegten Psycho-Thriller ist das natürlich fatal.
Im Leben von Familienvater Charles Schine (Clive Owen) hat sich die Routine eingeschlichen. Während seine Frau Deanne (Melissa George) zuhause den Haushalt organisiert, arbeitet er in einer Chicagoer Werbeagentur hart, damit die Medikamente für die an schwerer Diabetes erkrankte Tochter Amy (Addison Timlin) angeschafft werden können. Ein Zufall bringt Charles’ Alltag eines Morgens aus der Bahn. Als er im Zug zur Arbeit in der Innenstadt seine Fahrkarte und sein Portemonnaie vergessen hat, hilft ihm die Bankerin Lucinda Harris (Jennifer Aniston) mit Geld für ein Ticket aus. Charles ist sofort angezogen von der attraktiven Frau und es bahnt sich eine Affäre an. Beide sind unsicher, auch Lucinda ist verheiratet und hat eine Tochter, aber trotzdem landen sie in einem billigen Hotelzimmer im Bett. Als sie gerade zur Sache kommen wollen, stürmt der Gangster LaRoche (Vincent Cassel) herein, schlägt Charles brutal zusammen und vergewaltigt Lucinda. Damit ist der Albtraum aber lange noch nicht vorbei. Lucinda will nicht zur Polizei, weil ihr rigoroser Mann dann alles erfahren würde. LaRoche beginnt indes, Charles zu erpressen. Nachdem dieser zunächst 20.000 Dollar zahlt, gibt der Gangster trotzdem keine Ruhe und verlangt beim nächsten Mal 100.000 Dollar...
Einen denkbar schlechten Start für eine Hollywoodkarriere hat der schwedische Regisseur Mikael Håfström hingelegt. Sein Film „Evil“ („Ondskan“, 2003) wurde immerhin für den Oscar nominiert. Und einen mit Superstars besetzten waschechten Genrefilm, der auf einem Roman (von James Siegel) beruht, zu drehen, ist theoretisch auch nicht die schlechteste Idee. Praxis und graue Theorie sind allerdings zwei Paar Schuhe. „Entgleist“ hat einen großen Haken, der den gesamten Film kaputt macht: das Drehbuch von Stuart Beattie (Collateral). Nein, es ist nicht so, dass die Charaktere schlecht gezeichnet wären. Clive Owen (Hautnah, Sin City, King Arthur) macht dem Publikum deutlich, wie sein Familienvater tickt, auch wenn ihm eine gewisse Blässe nicht abzusprechen ist und er schon weit besser auf der Leinwand zu sehen war. Jennifer Aniston (Wo die Liebe hinfällt, ...und dann kam Polly, Bruce allmächtig) ist als große Versuchung ebenfalls so passend besetzt, wie Frankreichs Superstar Vincent Cassel (Die purpurnen Flüsse, Pakt der Wölfe, Irreversibel), der herrlich over the top agiert. In Nebenrollen sind die Rapper NZA (Coffee And Cigarettes) und Xzibit (xXx2: The Next Level) zu sehen, ohne Herausragendes beizutragen. Melissa George (The Amityville Horror) kann als braves, aufrechtes Hausmütterchen ihren Part ohne Anstrengung meistern, ist aber unterfordert. Da liegt nicht das Problem des Films.
Auch nicht im geschilderten Milieu. Das ist stimmig, die Voraussetzung für einen spannenden Film sind geschaffen. Doch ein Thriller steht und fällt mit seinen überraschenden Wendungen. Und auf dieser Ebene ist „Engleist“ ein Totalausfall. Die Fährten, die ausgelegt werden, sind meilenweit im Voraus zu erahnen. Håfström versucht, den Zuschauer im Ungewissen zu lassen, was eigentlich gespielt wird, aber dies gelingt ihm partout nicht. Die Hinweise, die dezent sein sollen, erkennt jeder Genre-erprobte Fan allzu leicht. Wenn sich die Handlung wendet und dem Protagonisten klar wird, was Sache ist, fördert dies statt Erstaunen nur Gähnen hervor. Selbst die zwischenzeitliche Dezimierungseinlage des Personals lässt sich ohne Mühe voraussagen.
„Entgleist“ hat jedoch noch weitere Probleme. Der Beginn ist durchaus logisch nachvollziehbar, aber je weiter sich Charles ins Ungemach stürzt, desto mehr leidet die Glaubwürdigkeit. Was er alles schluckt und in Kauf nimmt, um den Schein der heilen Familie zu wahren, nimmt teils groteske Züge an. Ein Gang zum Freund und Helfer wäre logisch, aber dann gebe es schließlich keine zweite Filmhälfte. Zu schlechter Letzt wartet der Thriller auch noch mit einem zwiespältigen „Schlussgag“ auf, der moralisch in den USA sicherlich ankommt (wer den Tod verdient hat, soll ihn auch bekommen – egal wie), aber in der Praxis recht hanebüchen und fragwürdig ist.
Alles in allem ist „Entgleist“ ein rechtes Dilemma. Das Setting ist ausgezeichnet, die Atmosphäre stimmt, die Zutaten des Film Noir inklusive Femme Fatale sind vorhanden und nett gespielt ist das Starvehikel auch. Aber immer, wenn das Konstrukt in die Gänge kommen soll, stottert der Genremotor. Das ist sehr schade - bei all dem Talent, das sich zu diesem Film versammelt hat. „Sie sahen es nicht kommen”, lautet die Werbe-Tagline des Verleihs. Der Zuschauer leider schon... Wie schrieb Andrea Gronwall vom Chicago Reeder so schön: „Watching this thriller is like drinking milk that's about to turn: It looks OK but smells a little dodgy…”