Vor fast sechs Jahren beschenkte uns die Autorin Cornelia Funke („Tintenherz“) mit dem wunderbaren, für Jugendliteratur sehr komplexen und herrlich rebellischen Roman „Herr der Diebe“. Die Vorfreude darauf, die Abenteuer von Prosper, Bo und Scipio im magischen Venedig endlich auch auf der Leinwand verfolgen zu können, ist unter Funke-Fans riesig. Leider haben sich die Macher der Verfilmung aber nur auf die Abenteueranteile der Vorlage konzentriert, deren Höhepunkte sie unmotiviert und sehr holprig aneinanderreihen. Die wirklich interessanten Elemente wie das kommunenartige Zusammenleben der Kinder oder die präzise Zeichnung der erwachsenen Charaktere, die gerade keine Monster, sondern auch nur Menschen mit Problemen sind, werden kaum beachtet. Der von tiefem Verständnis für Kinder, Erwachsene und ihr Miteinander geprägte Geist des Romans ist bei dem Versuch, einen Fantasy-Actioner à la „Harry Potter“ zu machen auf der Strecke geblieben.
Die Brüder Prosper (Aaron Johnson, Shanghai Knights) und Bo (Jasper Harris) sind unzertrennlich. Nach dem Tod ihrer Eltern wollen ihre Tante Esther (Carole Boyd) und ihr Onkel Max Hartlieb (Bob Goody) den niedlichen Blondschopf Bo adoptieren, während der ältere Prosper in ein Heim abgeschoben werden soll. Eine Trennung kommt aber für die beiden Geschwister auf gar keinen Fall in Frage und so fliehen sie gemeinsam nach Venedig. Von der Magie dieser Stadt mit all ihren geflügelten Löwen hatte ihre Mutter immer geschwärmt. Dort angekommen, werden sie aber schon bald mit dem Ernst des Lebens konfrontiert. Das Essen wird knapp und Bo braucht unbedingt Medizin gegen seinen schlimmen Husten. Als sie beim Klauen in einer Apotheke erwischt werden, verhilft ihnen der 15-jährige Scipio (Rolle Weeks, Das Mädchen mit dem Perlenohrring), der Herr der Diebe, zur Flucht. Er gewährt ihnen Unterschlupf in seinem geheimen Versteck, einem verlassenen Kino. Hier hat er auch schon den Rest seiner jugendlichen Diebesbande untergebracht. Die liebevolle Wespe (Alice Connor), der verrückten Riccio (George MacKay) und der technikbegeisterte Mosca (Lathaniel Dyer) helfen ihm bei seinen Raubzügen durch das nächtliche Venedig, mit denen sich die Kinder ihr unabhängiges Leben finanzieren. Das reichliche Diebesgut verscherbeln sie an einen fülligen Hehler namens Barbarossa (Alexei Sayle). Prosper entpuppt sich dabei schnell als knallharter Verhandlungskünstler und wird so zu einem unverzichtbaren Mitglied der Truppe.
Aber die Hartliebs geben nicht so schnell auf. Sie engagieren den Privatdetektiv Victor (Jim Carter, Shakespeare In Love), der den Kindern schon bald, wenn auch eher zufällig, auf die Spur kommt. Als er die Bande schließlich im Kino entdeckt, meldet sich jedoch sein Gewissen. Währenddessen bekommt Scipio von dem geheimnisvollen Conte (Geoffrey Hutchings, It´s All About Love) einen hochdotierten Auftrag. Er soll aus dem Haus der Fotografin Ida Spavento (Caroline Goodall, Schindlers Liste) einen hölzernen Flügel stehlen. Natürlich fragen sich alle, warum der Conte soviel Geld für etwas scheinbar Wertloses bezahlen will und kommen so auf eine alte Legende, die von einem magischen Karussell irgendwo in Venedig handelt. Aber auch innerhalb der Bande gibt es Probleme, ein aufgedecktes Geheimnis um Scipio stellt ihren Zusammenhalt auf eine harte Probe…
Scheinbar ist der Irrglaube, es sei einfacher, einen Film für Kinder zu machen, immer noch weit verbreitet. Anders ist die Entscheidung des erfolgreichen Produzenten Richard Claus („Der kleine Vampir“), der Anfang der 80er Jahre schon den Film „Bananen-Paule“ inszenierte, sich gerade „Herr der Diebe“ für erneute Regie-Stehversuche auszuwählen, nicht zu verstehen. Er kann es nämlich schlicht und einfach nicht. Die Inszenierung ist einfallslos, die Kinderdarsteller agieren hölzern und dass man Venedig trotz Drehs an Originalschauplätzen so profillos auf die Leinwand bringen kann, war vorher eigentlich nicht vorstellbar. Der magische Realismus der Vorlage wird nur in einer Szene, in der ein wenig Graffiti an eine alte Hauswand gesprüht ist, überhaupt versucht zu erreichen.
Und weil er es selber schon nicht kann, hat sich Claus als Co-Autor passenderweise den nur als Marketing-Manager und Produktionsassistenten erfahrenen Daniel Musgrave mit ins sinkende Boot geholt. Ihr gemeinsames Drehbuch schrieben sie unter dem Motto: „Nicht nur das Buch, auch der Film gehört den Kindern.“ Wenn das wirklich stimmt, müssen sie Kinder für sehr dumme Geschöpfe halten. Natürlich muss man ihnen zugestehen, dass sie die umfangreiche Geschichte aus Zeitgründen kürzen mussten. Statt aber überall ein wenig wegzunehmen, wird die Abenteuergeschichte sogar noch um eine überflüssige, spannungsarme Motorboot-Verfolgungsjagd angereichert, während die tiefergehende, viel interessantere Charakterisierung der Kinder durch die Hektik im Keim erstickt wird. Ein Eigentor schießen die Macher auch mit der Betonung der magischen Elemente. Mit ein paar animierten Wassermann- und Löwenköpfen, die ausgiebig im Trailer präsentiert werden, versuchen sie auf der momentanen Fantasy-Erfolgswelle mitzuschwimmen. Die Effekte sind dabei aber so rückständig, dass es weit weniger peinlich gewesen wäre, einfach zu seinem geringen Budget zu stehen.
Eines der Höhepunkte des Buches ist die sorgsame Ausarbeitung der Beziehungen zwischen den Kindern und ihren erwachsenen Gegenübern. Ist der Umgang von Viktor mit der Bande im Roman ein Paradebeispiel dafür, wie man mit Kindern umgehen sollte – er diskutiert auf gleicher Augenhöhe mit ihnen und hält sich fair an alle Abmachungen, statt von oben herab Befehle zu erteilen – verkommt die Figur im Film zu einem Pausenclown. Vor allem die erwachsenen Zuschauer, die sich am literarischen Viktor durchaus hätten orientieren können, werden sich nun kaum eine Witzfigur als Vorbild nehmen. An anderer Stelle ist die Pervertierung der Vorlage noch schlimmer. Scipios Vater ist bei Funke auch ein böser Mensch, der seinen Sohn nicht beachtet, weil Scipio seinen hohen, fragwürdigen Ansprüchen nicht gerecht werden kann. Eine Situation, mit der sich jedes Kind mehr oder weniger identifizieren kann. Claus macht aus dieser Figur im Film aber ein Monster, das seinen Sohn gleich auf eine Militärakademie schicken will. So raubt er diesem Konflikt jede Nähe zum wahren Leben. Ist das Buch noch voller Kritik, versucht sich Claus scheinbar in ein Märchen fernab jeglicher Realität und ohne jede Bedeutung zu retten. Bloß keinem auf die Füße treten!
Diese falsch verstandene politische Korrektheit zieht sich durch den gesamten Film. Dabei ist die Vorlage gerade deshalb so spannend, weil nicht alles zu 100 Prozent koscher ist, die Kids auch mal fluchen, sich gegen die Erwachsenen auch mal etwas grober zu wehren wissen. Als Beleg für diese weichgespülte Leinwandversion dient am besten die Szene, in der Viktor von der Bande gefangen genommen wird. Im Original zieht Viktor beim Durchsuchen des Kinosaals seine Pistole, die ihm die Kinder dann gewaltsam abnehmen und bei ihrem kommenden Raubzug verwenden. Im Film holt er nur seine wie eine Pistole geformte Hand aus der Jackentasche. Bevor man jungen, aufgeweckten Zuschauern mit einer solch verlogenen Moral kommt, hätte man die Szene lieber ganz weglassen sollen.
Es bleibt ein schwach inszenierter, holpriger Abenteuerfilm, der den rebellischen Geist des wunderbaren Romans aus lauter Angst mundtot gemacht hat. Trotzdem müssen Funke-Anhänger ihre Hoffnung auf eine angemessene Umsetzung ihrer Bücher nicht aufgeben, schon Anfang Februar startet der großartige Die wilden Huehner in den deutschen Kinos.